Die Menschen, um die es im Folgenden geht, leben in einer Wohnanlage für Senioren. Der See ist nah, die Gegend ruhig, das Gebäude stuckverziert und lichtdurchflutet. Krasser könnte der Gegensatz zu dem, was sich seit mindestens zehn Jahren im Inneren des Hauses abspielt, nicht sein.
Die Rede ist von einer Art Stellungskrieg, der psychisch belastet, das Leben wenig lebenswert macht: Die Bewohner lauern sich gegenseitig auf, fotografieren und beobachten sich, beschimpfen und schlagen sich. 70 Aktenzeichen zählt die Konstanzer Justiz über die Kämpfe in dem Haus, das sagte Staatsanwalt Simon Pschorr während einer Verhandlung in dieser Woche.
Es sind Kämpfe von Menschen, die alle einst ein Wunsch einte: ein ruhiger Lebensabend in Gesellschaft. Doch die Gesellschaftsräume sind leer, keiner wagt sich mehr hinein. Wie konnte es soweit kommen? Und warum bleiben die Senioren trotz des Dauerstresses hier und ziehen nicht aus?
Atmosphäre der Angst
Einen Einblick gab die Verhandlung. Angeklagt war das Ehepaar W. wegen Körperverletzung. Wenn es zum Streit kommt – sei es vor Gericht, ausgefochten über die Hausverwaltung, an der Pinnwand im Eingangsbereich oder von Angesicht zu Angesicht – ist das Ehepaar W. die Konstante. Die anderen Beteiligten wechseln immer mal wieder.
Deshalb sagen jene anderen auch, das Ganze sei Psychoterror, der von zwei Personen ausgehe. Das Ehepaar W. hingegen vertritt die Meinung, es handele sich um kollektives Mobbing gegen sie. Die aktuelle Gerichtsverhandlung drehte sich um eine Schlägerei in den Gängen des Hauses. Die W.s sollen auf Frau A. und ihren Mann eingeschlagen haben.
So erzählte es das mutmaßliche Opfer Frau A.: „Um 19 Uhr rief ein anderer Bewohner bei uns an und bat darum, dass mein Mann mit ihm das Haus verlässt, weil das Ehepaar B. aggressiv wirkte. Herr W. lief die ganze Zeit vor dem Haus hin und her mit finsterem Blick und hatte uns beim Ausladen unserer Einkäufe zuvor schon verbal angegriffen.“
Und weiter: „Ich dachte noch, dass es keine gute Idee sei, wenn mein Mann raus geht, doch er beruhigte mich: ‚Wir sind zwei Männer.‘ Ich rief dann bei Nachbarin C. an, die einen besseren Blick auf den Platz vorm Haus hat. Ich bat sie, mir Bescheid zu sagen, wenn die Männer zurückkommen. Damit ich raus gehen und gegebenenfalls Zeugin sein kann.“
Gesagt, getan. Als Frau A. hinausging, eskalierte die Situation. Aus den Worten der 77-Jährigen wird ersichtlich, welche Atmosphäre in dem Haus herrscht: eine Atmosphäre der Angst. Eine Zeugin bestätigte, dass das gegenseitige Beäugen an der Tagesordnung sei und man stets nur zu zweit das Haus verlasse, aus Angst vor dem Ehepaar W. „Ich krieg euch noch raus“ oder „Bald stirbst du eh“ sollen Sätze sein, die regelmäßig von den W.s kämen.
Wer lügt?
„Das Haus ist wie eine Außenstelle des ZfP Reichenau, keiner geht mehr alleine in der Anlage umher, alle nehmen Zeugen mit“, sagte Herr W.. Den Vorfall im Laubengang erzählt er ähnlich wie die mutmaßlichen Opfer. Nur sind er und seine Frau in seiner Version diejenigen, die flüchten wollten vor den Nachbarn – und schließlich geschlagen worden seien. „Wir werden rund um die Uhr observiert“, sagte er.
Das Ehepaar erstattete zuerst Anzeige. Die mutmaßlichen Opfer sagten, sie hätten Gegenanzeige erstattet. „Sonst würden wir hier nicht sitzen“, so Frau A.. Wer lügt? Aufschluss könnte hier eine Videoüberwachung geben. Wegen der ständigen Streitereien wollten die Eigentümer im Wohnhaus eine installieren. Es scheiterte jedoch an einer Stimme: der des Ehepaars W..
Vor Gericht folgte Richterin Marie-Theres Polovitzer der Staatsanwaltschaft und nicht Verteidiger Andreas Hennemann, der darauf verwies, dass zwischen den fünf Zeugen „alles abgesprochen“ gewirkt habe und ohnehin Aussage gegen Aussage stehe. Die Richterin glaubte Herr und Frau A. und verurteilte das Ehepaar W. zu einer Geldstrafe in Höhe von 7200 Euro.
Ende der Kämpfe nicht in Sicht
Doch einen eindeutigen Schuldigen benannte die Richterin nicht. Sie sagte: „Keiner hier verhält sich wie ein erwachsener Mensch. Alle Beteiligten haben ein erhebliches Belastungsinteresse.“ Sprich: Alle sind tief drin im Kriegsmodus. Nur Spaß scheint es keinem so recht zu machen.
Alle gaben an, wie sehr die Dauerstreits sie belasten würden. Frau W.: „Ich bin langsam auch am Limit.“ Zeugin M.: „Ich hoffe, dass wir bald eine neue Wohnung finden, ich bin am Ende.“ Mutmaßliches Opfer Frau A.: „Es ist wirklich erbärmlich, was wir hier auszuhalten haben.“
„Ich glaube, dass beide Lager Angst voreinander haben“, sagte Staatsanwalt Simon Pschorr. Und riet allen Beteiligten: „In dem Alter kann man einen Konflikt auch anders lösen, zum Beispiel durch Nachgeben.“ Während die Zeugen und mutmaßlichen Opfer bereits überlegen, umzuziehen, gibt es für einen kein Nachgeben: den nun verurteilten Herr W..
Der erklärte nämlich, während er rhythmisch auf den Tisch schlug, dass die Weimarer Republik an ihrer Wehrlosigkeit zu Grunde gegangen sei, und das würde ihm nicht passieren. Die Antwort auf die Frage des Anwalts von Ehepaar A., Jürgen Derdus, blieb er schuldig: „Warum muss man denn in einer Seniorenwohnanlage Widerstand leisten? Wogegen denn?“