SÜDKURIER: Die lieben Nachbarn …

Gerhard Zahner: … da sagen Sie was! Es gibt zwei Rechtsgebiete, auf denen Rechtsanwälte und Richter häufiger an ihre Grenzen kommen: Das sind WEG-Streitigkeiten, also zwischen Wohnungseigentümern, und Nachbarschaftsstreitigkeiten. Das Paradoxe dabei ist, dass im baden-württembergischen Nachbarschaftsrecht eigentlich alles bis ins kleinste Detail geregelt ist: die Höhe der Hecke am Gartenzaun (2,50 Meter), der Mindestabstand (ein halber Meter). Und wessen Baum zu viele Blätter auf Nachbars Grundstück abwirft, der kann zu einer ‚Laubrente‘ verdonnert werden. Der Gesetzgeber wollte durch klare Regeln Streit verhindern. Doch das Gegenteil ist der Fall: Je genauer alles geregelt ist, desto stärker werden ebenjene Regeln zum Streit genutzt. Wehe, das Wurzelwerk wird falsch abgemessen! Wehe, das Laub rieselt in den Garten des Nachbarn von einem gesunden Baum!

Gerhard Zahner ist Rechtsanwalt in Konstanz.
Gerhard Zahner ist Rechtsanwalt in Konstanz. | Bild: Eva Marie Stegmann

Pardon, aber das ist eine Lappalie!

Ja, für den Beobachter von außen. Und wegen so einer Lappalie, das müssen Sie sich vorstellen, rauben sich die Nachbarn gegenseitig ihre Lebensqualität. Das ist das Phänomen von Nachbarschaftsstreitigkeiten, dass es so schnell eskaliert und in den Exzess rutscht. Bis sich der Betroffene fragt: Bleibe ich und werde krank – oder ziehe ich weg? Richter und Richterinnen schlagen die Hände über dem Kopf zusammen. Anhand von Nachbarschaftsstreitigkeiten zerstören Menschen manchmal ihre psychische Existenz. Es ist nichts mehr relevant, außer dieser Streit mit dem Nachbarn. Erst kürzlich gab es einen Fall, da wurden Anwälte bedroht, es gingen CDs und Schriften rum an Stadträte, bis hin zum Oberbürgermeister. Wissen Sie warum? Wegen eines Schopfs, einer Gartenhütte! Der Mann war nicht mehr zu beruhigen.

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Zeit, Geld, Nerven – warum nehmen Menschen das auf sich?

Der Gesetzgeber hatte die Idee, für Nachbarschaftsstreits Schlichter einzusetzen. Ich war auch Schlichter in der Vergangenheit. Und ich kann Ihnen sagen: Es ist gescheitert. Es ist aussichtslos! Wenn der Baum zu nah, die Hecke zu hoch ist, eskalieren sie. Ich war bei Ortsterminen und dachte mir: ‚Das würde mich jetzt in meinem Leben nicht jucken, ich würde es nicht einmal bemerken‘ – und die streiten sich auf den Tod. Geld, Nerven, Familien zerstört, Nachbarn ziehen weg. Andere fliehen aus Nachbarschaftsstreitigkeiten, geben Häuser auf, geben Wohnungen auf. Das Grenzenlose ist das Phänomen, und das Phänomen ist, dass es eigentlich geregelt wäre. Die Hecke wächst oder steht ein bisschen näher dran. Na und? Das größte Gebot unter Nachbarn – und so hatte es auch der Gesetzgeber vorgesehen – ist das der gegenseitigen Rücksichtnahme. Damit ist eine gewisse Gelassenheit gemeint.

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Was ist an einer Hecke so wichtig?

Die Hecke steht für ein Gefühl von Ordnung. Je mehr die Welt in Unordnung gerät, desto relevanter ist diese Pseudo-Ordnung an der Nachbarschaftsgrenze. Manchmal habe ich das Gefühl, die Menschen sind schwächer geworden in ihrer Psyche. Die Hecke wird zum Symbol für Macht in einer Welt, der man gefühlt zunehmend ohnmächtig gegenüber steht. Wenigstens am eigenen Gartenzaun habe ich noch die Kontrolle – und bin der Stärkere. Man sieht dem anderen nicht an, wie gebrochen er ist, wieviel Nicht-Rücksichtnahme er erfahren hat. Da ist das Haus oder die Wohnung vielleicht das Einzige, was ihm geblieben ist. Und jeder, der Kläger wie der Beklagte, empfinden den anderen als rücksichtslos.

Das heißt jeder ist Opfer?

Ja, beide empfinden sich als Opfer. Immer. Und aus dieser Haltung werden beide zu nicht kontrollierbaren Wesen, die die Maske des Gesetzes überstreifen und aufeinander losgehen. Dazu kommt, dass jeder glaubt, das überreglementierte Nachbarschaftsrecht sei auf seiner Seite. Die Streitereien gehen teilweise über Jahrzehnte. Sie verzeihen sich nicht, auch wenn es vor Gericht entschieden ist. Man muss den Amtsrichtern und Amtsrichterinnen ein hohes Lob aussprechen: Es ist nicht ihr Job. Aber es ist erstaunlich, was sie versuchen zu schlichten und die Leute auf den rechten Weg zu bringen. Und dabei an persönlicher Zeit und Energie reinstecken!

Für die Richter gibt es doch wohl Relevanteres!

Man muss schon dazu sagen, dass meine Mandanten sich nicht selten physisch bedrängt fühlen. Es ist schwierig, auch finanziell. Schau mal, wo du in Konstanz eine neue Wohnung findest. Das ist das Brutale: Wegen der Miete, den Preisen, sind die Möglichkeiten zur Flucht weniger geworden. Du sitzt oft in der Falle. Es gibt Leute, die sind krank geworden deswegen, richtig psychisch krank. Hier in diesem Raum saßen Leute und haben geweint ‚Ich kann nicht mehr‘.

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Wie gehen Sie damit um, wenn Menschen deshalb zu Ihnen kommen?

Erstmal zuhören. Lange. Dann verstehst du den Streit. Dann versuchst du, in einem konstruktiven Prozess den Streit zu lösen. Das scheitert fast immer. Und dann gehst du vor Gericht. Ich habe noch nie einen Richter erlebt, der nicht versucht zu schlichten. Die Leute aufzufangen, ihnen etwas zu geben für ihr Leben. Das Problem ist, es gibt Leute, die schlagen seit Jahrzehnten immer wieder auf – mit wechselndem Publikum. Das sind Aufführungen der Aggression. Dass ein zerstörtes Leben sich was sucht, wo es noch mehr zerstören kann, und sich daran hochzieht, dass es anderen schlechter geht als ihnen selbst.

Eigentlich müsste man sich bei der Wohnungssuche schon die Nachbarn anschauen.

Das sind Luxusprobleme. Wenn Sie in Konstanz ein Häuschen, eine Wohnung angeboten bekommen, dann schlagen Sie doch zu. Wir haben bei dieser Verdichtung nicht mehr die Möglichkeit, uns Alternativen auszusuchen. Das ist, was ich vorhin meinte, die Flucht wird schwierig. Und das ist, was ich sehe: Es wird eine schwierige Flucht.

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Gibt es Ratschläge, um einen Konflikt zu entschärfen?

Ich würde zunächst sehen, was passiert, wenn ich gegen meine innere Überzeugung nachgebe. Findet der streitfreudige Nachbar das nächste Problem, weiß ich: Das ist eine Endlosschleife. Da muss man gegen halten. Das Beste ist, einfach die innere Stärke beizubehalten und freundlich zu bleiben. Freundlichkeit! Das trifft die Menschen am meisten. Mit einer inneren Haltung zu einer Rolle, also in dem Fall der Rolle des Freundlichen, lässt es sich leichter ertragen. Das ist wie beim Theater – ich bearbeite einen Stoff, ich bin nicht selbst die Figur, die es erlebt. Wenn der Nachbar nicht pathologisch aggressiv wird, kommt man damit sehr gut durch. Ein Narzisst, der sich nicht spiegelt, also wenn sich die anderen Leute nicht zu seiner Pfütze machen, für den wird es schwierig, sich zu sehen. Gelassenheit ist etwas, was man in dieser Gesellschaft nicht genug üben kann.

Schützt das Gesetz die Leute ausreichend, die kaputt gehen?

Man kriegt das schon hin, wenn man Gegendruck aufbaut – legalen Gegendruck. Wenn Sie neben einem Reichsbürger eingezogen sind, da können Sie es mit Freundlichkeit vergessen. Da müssen Sie Strafanzeige stellen und daran arbeiten.

Ist Nähe der Grund für die Eskalation?

Wir haben ja architektonisch das Zeitalter der Verdichtung, deshalb finde ich die Frage spannend. Ich glaube es aber nicht, weil die Nachbarschaftsstreitigkeiten genauso in erlesenen, weiten Gärten stattfinden. Das hat mit Verdichtung nichts zu tun. Man muss differenzieren, dieser Streit ist oft auf der Eigentümer- und Besitzerebene. Es ist erstaunlich, wie Eigentum Leute blenden und sie zu einem unreflektierten Handeln führen kann. Im Glauben, dass es ihr Recht ist. Vielleicht brauchen wir zur Verdichtung auch eine neue Kultur des Miteinander-Umgehens.

Was wären Impulse für diese Kultur?

Solche Streitigkeiten nicht mehr so oft zuzulassen. Ich bin für einen Paragraphen im Gesetz, der sich „Lebenszeit“ nennt. Auf den können sich Anwälte und Richter berufen und sagen: ‚Du stiehlst mir die Lebenszeit mit dieser Rechtsfrage, geh wieder‘. So dass man ein Stück weit die Verantwortung zurückgibt. Damit die Menschen sich wieder fragen: Muss ich denn jeden scheiß Nachbarschaftsstreit vor Gericht tragen? Wie viel Energien verbrauche ich da auf den anderen Seiten wegen läppischen Fragen? Andererseits: Lieber gehen sie zum Gericht, als dass sie aufeinander losgehen. Ich wünsche mir, dass die Menschen ihre Auseinandersetzungen wieder mehr im Guten miteinander austragen.