Herr Burchardt, erinnern Sie sich noch ans Jahr 2011? Damals haben Sie das Buch mit dem Titel „Ausgegeizt“ geschrieben. Sie saßen im Radolfzeller Innovationszentrum, schrieben. Hofften von einer Top-Zehn-Platzierung auf der Spiegel-Beststellerliste. Vermissen Sie die Zeit?
Als ich gewählt wurde, wusste ich: Ich kann nie zurück in die Wirtschaft. Ich hing aber auch nicht daran. Der rote Faden meines Lebens ist die Nachhaltigkeit: In der Wirtschaft wie in der Stadtentwicklung, ganz am Anfang im Forst. Ich war sehr früh dran mit dem Buch. Vieles von dem, was da drinsteht, ist heute allgemeines Gedankengut – etwa von der Sinnhaftigkeit des regionalen Einkaufens. In die Spiegel-Bestsellerliste habe ich es nicht geschafft, aber in andere Bestseller-Listen.
Sie sehen sich mit Ihrem Buch als Vorreiter?
Naja Vorreiter – ein Stück weit vielleicht. Der Anspruch des Buchs war ja: „Moment, du kannst nicht nur auf die anderen zeigen, jeder von uns trägt eine Verantwortung.“ Das Wort Vorreiter ist aber vielleicht ein bisschen zu groß.

Der Reiz des Buchs ist sein Anspruch. Ähnlich ist es bei der Konstanzer Politik: Hohe Ansprüche treffen auf reale Politik. Beispiel: Die geplante Verschuldung von 20 Millionen auf knapp 100 Millionen in drei Jahren. Da würde den Gemeinderäten andernorts angst und bange. Sehen Sie und Teile des Gemeinderats nicht manchmal die Gefahr des Realitätsverlusts?
Das wäre unser theoretischer Schuldenstand, wenn wir alles so wie geplant realisieren würden. Werden wir aber nicht. Wir verschieben und schauen, was sich in den nächsten zwei Jahren rechnen lässt. Wir müssen auf jeden Fall von den 100 Millionen um mehrere zehn Millionen Euro runter kommen und Investitionen in Frage stellen. Aber prinzipiell nehmen wir die Schulden – wenn überhaupt – ja nicht für abgehobene Dinge auf, sondern für Kitas oder etwa Schulen. Das sind keine Wolkenkuckucksheime, das ist weit weg von abgehoben. Vielleicht ist jede Stadt auf ihre Art auch eine Blase. Natürlich sind wir eine spezielle Stadt, aber sind das nicht alle Städte? Unser Problem ist, dass unsere Wünsche und das, was wir uns leisten können, auseinanderdriften. Darüber werden wir in unserer Haushaltsklausur im Herbst sprechen. Das ganze Thema Klimaschutz würde ich aber gerne separat betrachten.
Wie meinen Sie das?
Um alle städtischen Gebäude auf Top-Energieniveau zu sanieren, bräuchten wir in Konstanz wohl über eine Milliarde Euro. Da stellt sich nicht nur die Frage des Geldes, sondern auch die Frage, ob wir dafür über die Manpower verfügen, denn für jede Million braucht‘s im Prinzip einen Architekten pro Jahr und natürlich auch die entsprechenden Handwerker. Und wer weiß, ob es überhaupt richtig ist, alle städtischen Gebäude so zu dämmen. Möglicherweise bekommen wir vorher eine Technologie, die CO2-neutrale Wärme liefern kann.
Sie propagieren Weltoffenheit, Klimagerechtigkeit, Behindertenfreundlichkeit. Aber reden und handeln sind zwei Paar Schuhe. Wieder so ein Beispiel: Kürzlich verkündete die Stadt, dass sie alle Bushaltestellen behindertengerecht sanieren will. Das wird nach Berechnungen von Stadträten ungefähr bis 2050 umgesetzt – 2050! Sie müssen verstehen, wie so etwas beim Bürger ankommt…
Die Zahl 2050 kenne ich nicht. Wir werden hier sicher sehr viel früher fertig sein. Die schwierigste und teuerste Bushaltestelle, die mir richtig auf der Seele lag, haben wir am Sternenplatz gerade gemacht. Die nächstwichtigste wäre sicher am Bahnhof. Wir müssen aber warten, bis der ganze Bahnhofsplatz saniert wird, was jetzt ja gerade beginnt. Alles geht Schritt für Schritt und ist auch mir oft zu langsam. Die Realität ist, dass wir nicht unbegrenzt Geld haben – und dass man eben nicht alles gleichzeitig machen kann.
Was ist, wenn Wirtschaft mit Klima in Konflikt kommt? Zum Beispiel, weil die Leute mit dem Auto in die Stadt kommen. Wie soll eine klimaneutrale Anfahrt funktionieren?
Ok, stellen wir uns vor, man dürfte nicht mehr mit dem Auto nach Konstanz. Was wäre dann? Dann würde keiner mehr kommen, aber die Menschen würden trotzdem einkaufen. Woanders. Das würde dem Klimaschutz auch nicht dienen. Deshalb ist ein attraktives Angebot für die Anreise nach Konstanz wichtig, das schaffen wir aber nicht mit Verboten. Wir müssen den Menschen zeigen, wie man sich bewegen kann ohne Auto. Wir müssen Neues erfinden.
Die Menschen müssen einkaufen, brauchen Kleidung, Schuhe, Lebensmittel. Und wir sind ein Oberzentrum und darauf ausgelegt, auch Menschen im Umland zu versorgen. Das gilt übrigens ebenso für Teile der Schweiz. Allein deshalb kann man nicht sagen: „Kauf doch woanders ein.“ Wir können Konstanz nicht nur für uns beanspruchen, können keinen Zaun drum machen und wollen das auch nicht. Also ist meine Antwort: Das Einkaufen muss eines Tages klimaneutral sein und da haben wir noch einen weiten Weg vor uns.

Schauen wir uns an, was konkret gemacht wird. Sie sagen, Sie wollen keine Verbote. Ist es nicht de facto ein Verbot, wenn Menschen, die auf das Auto angewiesen sind, keinen Parkplatz bekommen? Als es im Gemeinderat um Parkplätze in Dettingen ging und den Fall, dass jemand das Auto braucht, um zum Arbeiten nach Radolfzell zu fahren, sagte eine FGL-Rätin: „Dann sollen sie doch nach Radolfzell ziehen.“ Auch im Paradies ist der Parkplatzmangel ein Dauerproblem.
Es gibt unterschiedliche Realitäten, eben zum Beispiel in Dettingen oder im Paradies. Mir ist wichtig, dass alle Realitäten bei uns eine Heimat finden. Erst einmal ist es so, dass ich komplett gegen die Antiautopolitik bin, denn das bringt uns nicht weiter. Ja, es ist erstrebenswert, dass Menschen dort leben, wo sie arbeiten. Aber wir haben im Moment nicht genug Platz. Weil die Stadt Konstanz aktuell noch nicht so viel neuen Wohnraum schaffen kann, wie gebraucht wird. Deshalb muss es auch möglich sein, von Aach oder Volkertshausen nach Konstanz zu kommen.
Im Paradies allerdings will ich Menschen motivieren, dass sie das Auto irgendwann mehr als Last denn als Hilfe sehen, sprich: nicht mehr brauchen. Dort ist alles in der Nähe und der Rest kann mit Lastenrad, Bus, Scooter und Carsharing erledigt werden. Und für diejenigen, die auf das Auto aus irgendeinem Grund angewiesen sind, planen wir Mietstellplätze in Quartiersgaragen. In Dettingen gibt es eine andere Realität. Dort ist man in bestimmten Situationen einfach auf das Auto angewiesen.
In der Praxis sieht das dann auch schon mal so aus: Ein Mensch ist krank und kann nicht Rad fahren, er will im Paradies zum Arzt und fährt mit dem Auto. Er findet keinen Parkplatz. Und wenn doch, dann hat er drei Stunden später einen Strafzettel, weil‘s beim Arzt nicht so flott wie gewünscht ging. Inwiefern sehen Sie hier eine Kluft zwischen Lokalpolitik und Realität? Und führt das nicht zu Politikverdrossenheit bei den Bürgern?
Aber den Arzt könnte man vielleicht auch ganz gut mit dem Bus erreichen? Oder das Auto im Parkhaus Altstadt abstellen? Ich wiederhole mich: Es gibt unterschiedliche Realitäten, beide brauchen Antworten. Übrigens ist das meiste, was der Rat macht, ja nicht Politik, sondern einfach handfeste Arbeit. In Konstanz sind es viele hundert Entscheidungen im Jahr, die kann kein Mensch durchdringen, das ist so viel Material – in den Fraktionen teilen sich die Räte die Arbeit auf. Es ist klar, dass der Bürger das nicht immer nachvollziehen kann.
Interessiert sind die Bürger zum Beispiel bei Konflikten, die sie in ihrem Quartier oder Stadtteil betreffen. Die von Ihnen erwähnte Politikverdrossenheit sehe ich nicht. Wir fragen ja die Bürgerinnen und Bürger regelmäßig, wie sie die Stadt wahrnehmen. Die Lebenszufriedenheit ist sehr hoch. Konstanz wurde vom Gemeinderat unterm Strich meistens weitblickend und gut regiert. Ein Beispiel dafür ist das riesige frei zugängliche Seeufer, das gibt es nirgendwo in Deutschland oder im Ausland. Weil die Lokalpolitik das so umgesetzt hat. Probleme, die andere haben, haben wir nicht: Keine Stadtteile, die politisch abfallen, die man nicht mehr erreicht, wo die Polizei nicht mehr rein will. Das haben wir einfach nicht.
Gilt das auch freitags fürs Schänzle nach 23 Uhr?
So, wie es ist, kann es nicht bleiben. Das muss man klar feststellen, aber andererseits ist es nicht unerträglich – in Relation zu dem, was anderswo geschieht. Ich habe Verständnis, dass die Polizei nicht überall gleichzeitig sein kann.
Hier endet der erste Teil des Gesprächs
- Im zweiten Teil des SÜDKURIER-Sommerinterviews erfahren Sie unter anderem, wie die Stadt Konstanz dagegen vorgehen möchte, dass sich nur noch Wohlhabende das Leben am See leisten können. Und was dafür getan wird, damit sich auch Familien, Studenten oder Einkommensschwächere noch das Wohnen erlauben können.