Seit 14 Jahren lebt er in Konstanz auf der Straße, die Liste seiner Vorstrafen ist lang, er saß schon hinter schwedischen Gardinen und auf der Anklagebank ist er ein alter Bekannter: Nun muss sich ein 36-Jähriger vor dem Landgericht Konstanz erneut wegen mehreren mutmaßlichen Taten verantworten.
Im Gerichtssaal wird deutlich: Alle Prozessbeteiligten wollen dem obdachlosen Mann aus schwierigen Verhältnissen und mit einer schwerwiegenden psychischen Erkrankung nur helfen. Doch ob er die Hilfe annimmt, bleibt am Ende der Verhandlung unklar – was beim Richter für Kopfschütteln sorgt.
Dem 36-Jährigen wird laut Anklageschrift zur Last gelegt, im April 2023 zwei Scheiben des Bürgerbüros an der Unteren Laube mit Steinen eingeworfen zu haben und dort eingestiegen zu sein. Er durchwühlte mehrere Rollcontainer, fand aber wohl kein interessantes Diebesgut und verschwand ohne Beute wieder vom Tatort.
Er soll außerdem am 6. August 2023 einen zum Tatzeitpunkt 67-Jährigen in einer Bankfiliale in Reichenau, wo er zuvor geschlafen hatte, brutal verprügelt und ihm 100 Euro abgenommen haben. Das Opfer trug schwere Verletzungen davon, bis heute leidet es an einer posttraumatischen Belastungsstörung und an den körperlichen Folgen der Attacke.
Bei der darauffolgenden Festnahme in einer anderen Bankfiliale in Konstanz soll der Wohnungslose heftigen Widerstand geleistet sowie die Beamten bespuckt, beleidigt und verletzt haben. Er stand dabei unter erheblichem Alkoholeinfluss. Vor Gericht muss er sich wegen versuchten Diebstahls in Tateinheit mit Sachbeschädigung, gefährlicher Körperverletzung sowie Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte in Tateinheit mit Beleidigung und Körperverletzung verantworten.
Komplizierte Vorgeschichte
Seine Schuld muss dabei eigentlich gar nicht mehr aufgearbeitet werden: Der 36-Jährige ist bereits vom Amtsgericht Konstanz zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr und acht Monaten verurteilt worden und saß aufgrund seiner Taten schon hinter Gittern. Auch vor dem Landgericht bestreitet er seine Taten nicht, möchte allerdings zur Sache keine Angaben mehr machen.
Er habe sich in der Vergangenheit umfassend geäußert, sagt er. Die nochmals als Zeugen geladenen Polizisten – von denen einige den Mann aus dem Obdachlosenmilieu bereits „seit Jahren kennen“ – geben die mutmaßlichen Taten weitestgehend so wieder, wie sie in der Anklageschrift festgehalten sind.
Dass der Fall nun nochmals umfassend vor der Kammer aufgerollt wird, liegt daran, dass der Angeklagte gegen das Urteil des Amtsgerichts Berufung eingelegt hat. Darüber hinaus ist seine Schuldfähigkeit krankheitsbedingt vermutlich eingeschränkt, weshalb eine Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus im Raum steht. Seit seiner Haftentlassung befindet er sich bereits in einer solchen Einrichtung. Über seine langfristige Unterbringung kann nur das Landgericht entscheiden.
Schwieriges Leben, psychische Erkrankung
Im Prozess wird klar: Der Mann kommt aus schwierigen Verhältnissen und seine bisherige Lebenssituation ist prekär. Demnach ist der 36-Jährige seit seiner Jugend psychisch auffällig, er kam mit elf Jahren bereits in ein Heim für schwer erziehbare Kinder. Er hat keinen Schulabschluss, keine Berufsausbildung und lediglich sporadisch gearbeitet.
Seit 2011 lebt er in Konstanz – auf der Straße, in der Notunterkunft, im Gefängnis oder in psychiatrischen Einrichtungen. Zu seiner Familie hat er seit über zehn Jahren keinen persönlichen Kontakt mehr. „Und Freunde oder Bekannte?“, fragt Richter Arno Hornstein. „Nein“, antwortet der Angeklagte. Kein Kontakt zu niemandem – fasst der Richter zusammen.
Der 36-Jährige hat zudem einiges auf dem Kerbholz: Seine Akte im Bundeszentralregister enthält 21 Eintragungen, er ist einschlägig und vielfach vorbestraft; unter anderem durch Urteile von Amtsgerichten Konstanz und Radolfzell. Der Mann ist Alkohol und Drogen bereits seit seiner Jugend zugewandt.
Im Jahr 2017 wurde ihm eine gesetzliche Betreuung zugeteilt, darüber hinaus steht eine schwere psychische Erkrankung – nämlich Schizophrenie – im Raum. Bereits im Jahr 2011 befand er sich wegen des Verdachts auf Suizidgefahr in einer Psychiatrie. Er selbst ist sich laut eigenen Angaben keines psychischen Problems bewusst.
Ist der Angeklagte schuldunfähig?
Das entkräftet ein Sachverständiger, der den Angeklagten schon länger kennt, umfassend. Erst jetzt – seitdem er sich in der psychiatrischen Einrichtung befindet und medikamentös behandelt wird – könne man überhaupt ein richtiges Gespräch mit ihm führen. „Ohne Medikamentenabgabe hätten sie sich so gar nicht unterhalten können“, sagt Aksel Hansen vom Zentrum für Psychatrie (ZfP) Reichenau in Richtung des Richters. Zuvor sei die Kommunikation des Angeklagten noch „völlig zerfasert“ und „sprunghaft“ gewesen. Das bestätigt auch Pflichtverteidiger Oliver Merle: „Gespräche zwischen uns waren quasi nicht möglich.“
Aksel Hansen bescheinigt dem Angeklagten eine seelische Störung: Der 36-Jährige leidet an einer sogenannten hebephrenischen Schizophrenie, ist der Oberarzt sicher. Dazu käme eine Polytoxikomanie, also der Gebrauch unterschiedlichster Drogen. Seine Einsichtsfähigkeit sei zum Zeitpunkt der jeweiligen Taten aufgrund dessen vollständig aufgehoben gewesen, ist der Sachverständige sicher. Nach Paragraf 20 des Strafgesetzbuches (StGB) liege eine Schuldunfähigkeit vor.
Am Ende der Verhandlung ist deshalb klar: Der Angeklagte ist freizusprechen, darauf plädiert selbst die Staatsanwaltschaft. Allerdings ist nach Paragraf 63 StGB die Unterbringung in einer psychiatrischen Klinik anzuordnen. Sein Verteidiger Oliver Merle sagt: „Er gehörte nie in Haft, er gehörte immer in die Unterbringung.“ Dem folgt auch das Gericht um Richter Arno Hornstein.
Welche Perspektive hat der 36-Jährige langfristig? Das fragen sich wohl alle Prozessbeteiligten. Sie hegen Hoffnung, dass sich der Angeklagte ändern wird, vor allem, nachdem man mit der erfolgreichen Medikamentenabgabe und Gesprächstherapie Erfolge verbuchen konnte. Das Problem: Der Mann scheint weiterhin uneinsichtig und will durch Einlegen von Revision die Unterbringung noch abwenden. „Dann haben sie nichts davon verstanden, was ich ihnen gesagt habe“, meint Richter Arno Hornstein am Ende kopfschüttelnd. Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig.