Es ist ein schlichter Satz, der plötzlich so ganz anders klingt. „Die letzte Fahne ist geschwungen“ – so oft hat Gerhard Schlaich das gesagt. Ob er mit seinem Fahnenschwinger-Team beim Seenachtfest oder bei der Weltmeisterschaft war, in der Stephanskirche bei der Narrenmesse oder zu Besuch bei einer der vielen befreundeten Gruppen in halb Europa: „Die letzte Fahne ist geschwungen“, das bedeutete: Jetzt ist der Auftritt vorbei, jetzt darf man sich auch mal ein Bier gönnen. Denn vor den kunstvollen und bisweilen auch waghalsigen Choreografien mit den großen, schweren Fahnen, da war Alkohol für seine Mannschaften tabu.

Über die Fasnacht kam er zum Fahnenschwingen

Denn Fahnenschwingen und Fahnenhochwerfen ist eine ernsthafte, sportliche Angelegenheit. Und darüber wusste wohl kaum jemand auf der ganzen Welt mehr als Gerhard Schlaich. Er baute die Konstanzer Gruppe vor Jahrzehnten auf, richtete hier in der Stadt viele Treffen und Meisterschaften aus. 1973 aus seiner schwäbischen Heimat Geislingen nach Konstanz gekommen, schloss er sich erst als Musiker den Freien Blätz an und kam 1990 zur Niederburg.

Dort führte er die Fahnenschwinger zu immer größeren Meisterschaften, sie gewannen Preise auf nationaler und internationaler Ebene, und immer war Gerhard Schlaich dabei – vorzugsweise im Hintergrund. Die Erfolge gönnte er den meist jungen Teams von Herzen, aber wenn etwas mal nicht so gut klappte, nahm er es auf seine Kappe. Drei Generationen hat er geführt, geprägt und begeistert. Sie sind viel gereist, zu Treffen und Meisterschaften in Italien, Luxemburg oder Holland. Haben immer neue Choreografien entwickelt, und die treibende Kraft war stets Gerhard Schlaich, der immer voller Stolz über seine Kameradinnen und Kameraden sprach.

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Der Niederburg blieben die Fahnenschwinger auch nach der offiziellen Lösung aus der Narrengesellschaft – zu sehr hatten sie sich zu einem Sportverein entwickelt – ebenso treu wie ihrer Heimatstadt. Es gibt wohl keine Gruppe, die so oft Botschafter der Stadt war und nur wenige Menschen, die ihr Konstanz so häufig in der Welt vertreten haben, wie Gerhard Schlaich. Weil er es eben so gut verstand, den Funken von sich auf andere überspringen zu lassen.

Für Geschichte und Geschichten konnte er sich begeistern

Begeistern konnte sich Gerhard Schlaich für vieles. Zur Fahnenschwingerei kam er einst über sein geschichtliches Interesse. Wappen, Burgen und dergleichen faszinierten ihn, er entwickelte eine tiefe Liebe zum von Mythen umwobenen Irland. Und er war ein begeisterter Fasnachter. Immer dort, wo Tradition und Gegenwart zusammenkamen, wo etwas bewahrt wird, indem Menschen es weiterentwickeln, da fühlte er sich besonders gut aufgehoben.

Auch ein besonderer Moment für Gerhard Schlaich war die Fahnenweihe zum Jubiläum: Cooperator Christof Scherer segnete bei der ...
Auch ein besonderer Moment für Gerhard Schlaich war die Fahnenweihe zum Jubiläum: Cooperator Christof Scherer segnete bei der Narrenmesse in St. Stephan Konstanz die bunten Tuche der Fahnenschwinger der Niederburg (ganz links im Bild: Gerhard Schlaich). Das war 2009. | Bild: Jörg-Peter Rau

So überrascht auch nicht, dass Gerhard Schlaich, der Mann mit so vielen Talenten, auch noch eine andere, ebenfalls höchst bemerkenswerte, Gabe besaß: Wohl niemand im weiten Umkreis hat ähnliches Wissen über Käse.

Als Zollbeamter hatte Gerhard Schlaich bis zu seiner Pensionierung 2017 auch die Einfuhren von Lebensmitteln aus der Schweiz zu überwachen. Schnell merkte er, dass nicht bei allem, wo zum Beispiel Appenzeller draufsteht, auch Appenzeller drin ist. Legendär sind seine Verprobungen, bei denen er mit einem Bohrer bis tief unter die Käserinde eindrang und mehr als einmal eine Produktfälschung entlarvte.

Sein Spürsinn für gefälschten Käse ist legendär

Und Gerhard Schlaich wäre nicht er selbst gewesen, wenn er sich nicht auch ins Thema Käse tief eingearbeitet hatte. Er machte sogar eine Ausbildung zum Käser, ließ sich alles erklären und gewann so viel Vertrauen, dass er im Appenzell die Kaseinmarke, gewissermaßen den Echtheits-Stempel für den Käse mit der geheimen Kräutersulz, mit entwerfen konnte. Diejenigen zu schützen, die mit harter Arbeit ein ehrliches Produkt herstellen, das war Gerhard Schlaich mit seinem tiefen Gerechtigkeitsempfinden ein Anliegen.

Sein Wissen aus der Zollverwaltung brachte er in vielen Vereinen und Verbänden ein, denen er beim Aufstellen einer zeitgemäßen Satzung half (oder sie dazu sanft antrieb). Seine Menschlichkeit spürten alle Fahnenschwinger und -hochwerfer und hier insbesondere auch jene, die man in diesem Sport nicht auf den ersten Blick erwarten würde. Für Inklusionsprojekte, bei denen Menschen mit Behinderung Teil der Gemeinschaft wurden, erhielt Schlaich mehrere Preise, unter anderem den Inklusionspreis des Landkreises.

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Seinen letzten Auftritt absolvierte Michael Schlaich an einem Ort, der ihm besonders wichtig war. Im Spätsommer 2022 war das, bei der Eröffnung des Historischen Stadtfestes in Stuttgart. Er empfand es als besondere Ehre, dort Michael Herzog von Württemberg begegnen zu können. Die Fasnacht 2023 konnte er nur noch am Fernseher im Hospiz von Sigmaringen miterleben. So gerne wäre er noch einmal auf einen Umzug gegangen, aber die Kräfte hatten ihn, einst einen so stattlichen Mann, zu diesem Zeitpunkt bereits verlassen.

Sein letzter Aufritt: Gerhard Schlaich mit der Fahne seines heimatlichen Württemberg im Spätsommer 2022 in Stuttgart.
Sein letzter Aufritt: Gerhard Schlaich mit der Fahne seines heimatlichen Württemberg im Spätsommer 2022 in Stuttgart. | Bild: Sammlung Ines Schlaich

Am 9. März ist Gerhard Schlaich nach schwerer Krankheit gestorben, er wurde nur 69 Jahre alt. Seine Familie mit den erwachsenen Kindern trauert ebenso wie die internationale Gemeinschaft der Fahnenschwinger, die aus ganz Südwestdeutschland, aus Italien, den Niederlanden und von vielen anderen Orten kondolieren. Für sie alle ist klar: Die letzte Fahne hat Gerhard Schlaich nicht geschwungen. Weil etwas von ihm weiterlebt in jeder akrobatisch geführten Fahne. Und manche sind sich auch sicher, dass Gerhard Schlaich seine Fahne nun nicht mehr in den Himmel, sondern eben direkt im Himmel wirft.