Die schmale Rheingasse ist im Mittelalter das Tor zur Konzilstadt: Vom Rheintor kommend, muss sich jede Kutsche ihren Weg durch die enge Straße bahnen. Zwischen den Häusern herrscht reges Treiben: Vom Hof der Rhein-Schmiede dringt metallisches Hämmern auf die Straße, Kutscher rufen sich Kommandos zu, eine lustige Gaukler-Truppe macht sich gerade auf den Weg zum Münsterplatz.
500 Jahre später: Die Rheingasse ist ein verträumtes Sträßchen, drei Touristen schlendern über das Pflaster, alle paar Minuten fährt mal ein Auto durch die Gasse. Doch einige Details erzählen noch davon, dass dieser Ort eine Hauptverkehrsader war. Der SÜDKURIER hat sich mit Stadtführer Daniel Groß auf Spurensuche begeben.

Wir starten unsere Zeitreise am imposanten Eingang der Rheingasse: 35 Meter hoch thront der Rheintorturm über dem Wasser, mit einem stolzen Gewicht von rund 2500 Tonnen. Um 1360 erbaut, ist das Stadttor ein beliebtes Fotomotiv bei Touristen. Doch der steinerne Bogen führt ins Nichts, endet abrupt vor dem Wasser: Wo ist die Brücke zu diesem Tor?
„Bis in das 19. Jahrhundert führte von diesem Stadttor eine Holzbrücke auf das gegenüberliegende Ufer – der einzige Zugang aus dem Norden“, weiß Daniel Groß. Die Rheinbrücke ist damals eine beachtliche Konstruktion: Die Straße ist mit einem Dach gegen Witterung geschützt; an die Brücke ist zudem eine Mühle angeschlossen, das Mühlrad dreht sich in der Strömung des Seerheins. Wer vom Norden her trockenen Fußes in die Stadt will, muss diese Brücke passieren – und einen Wegzoll entrichten.
Ein folgenschwerer Unfall
1856 kommt es dann zu einem folgenschweren Unfall: Vermutlich fällt in der Mühle am Seerhein eine Lampe um und löst einen Großbrand der Brücke aus. Zunächst behelfen die Konstanzer sich mit einer Notbrücke, doch die Entscheidung für einen Neubau an anderer Stelle ist bereits gefallen: Keine 50 Meter entfernt entsteht eine Brücke aus einer modernen Stahlkonstruktion. Sie soll neben dem Straßenverkehr auch die neue Hochrheinbahn mit der Konstanzer Altstadt verbinden. Im Jahre 1863 wird die Brücke – geplant vom Eisenbahningenieur Robert Gerwig – an ihrem heutigen Ort eröffnet, auch der Straßenverkehr fließt nun am Rheintorturm vorbei.

Die Spurensuche geht weiter: Wir queren den vielbefahrenen Rheinsteig, um zu den ersten Häusern der Rheingasse zu gelangen. „An der Stelle des Rheinsteigs war im Mittelalter noch ein Wassergraben, damals führte vom Rheintorturm eine Brücke in die Stadt“, erzählt Daniel Groß beim Laufen. 200 Meter weiter bleibt er rechts vor einem Haus am Anfang der Rheingasse stehen: Vier Stockwerke hoch ragt das gelbe Haus tief in den Garten rein, ein Fenster reiht sich an das nächste.
Doch vor knapp 200 Jahren zählte das imposante Gebäude nur eine Bewohnerin. „In dieses Haus zog um 1830 ein lediges Fräulein aus Rorschach ein“, berichtet der Historiker. Der wohlhabende Vater von Josephine von Hoffmann kauft seiner Tochter ein „standesgemäßes“ Haus. Ruhig bleibt es hier aber nicht: Viele Nichten kommen nach Konstanz, um bei ihrer Tante den gesellschaftlichen Feinschliff zu erhalten: von der Konversation bis zu den Essmanieren.

Ein Buch einer solchen Verwandten erzählt von einer speziellen Eigenart der Tante – die nicht die größte Frau war. „Die Diener mussten immer kleiner als ,Tante Josephine‘ sein, damit sie eindeutig die Herrin war“, sagt Daniel Groß. Nur der Kutscher durfte ein langer und muskulöser Mann sein: Um dennoch die Ordnung zu wahren, nannte Tante Josephine jeden Kutscher „Balthasar“.
Die erste Autowerkstatt der Stadt
Zwei Häuser weiter verrät eine Verzierung an der Hauswand, dass hier die Rhein-Schmiede ihren Sitz hatte. Es ist die erste Anlaufstelle für Händler und Reisende, wenn ein Kutschen-Rad repariert oder ein Pferdehuf neu beschlagen werden muss. „Das war die erste Autowerkstatt der Stadt“, sagt Groß schmunzelnd. Legt man den Kopf etwas in den Nacken, kann man beim Schlendern durch die Gasse weitere Details entdecken: Viele Häuser tragen einen Namen, vom „roten Schlüssel“ bis zum „Regenbogen“. „Das waren die Adressen im Mittelalter“, erklärt Groß.

Auch die wechselnden Straßennamen der Rheingasse erzählen eine Geschichte. „Die Straße war vor dem Brückenbau nach einem hier wohnhaften Adson benannt: Ein schöner mittelalterlicher Name – den kennt man vielleicht aus ,Der Name der Rose‘.“ Mit der ersten Verbindung über den Seerhein ändert sich der Name um 1200 zur Bruckgasse – diese Bezeichnung verliert sie 600 Jahre später wieder.
„Nach dem Neubau der Rheinbrücke ist der Name hinfällig, dann wird in den 1870ern aus der Bruck- die Rheingasse“, sagt der Historiker. Die Bewohner konnten diesen Verlust wohl verschmerzen: Mit dem Neubau der Brücke rattert der Stadtverkehr nun nicht mehr an ihren Häusern vorbei – es wird wieder ruhiger in ihrem Gässchen.