Zumindest in einem scheinen sich die Experten einig zu sein: Die häusliche Gewalt nimmt während der Corona-Krise zu. „Tagelang in den Wohnungen zu sitzen, die fehlende Intimität, keine soziale Kontrolle von außen und Drogenkonsum, auch aus Frust, da steigt der Druck, die Hemmschwellen sinken. Heimliche Hilferufe über digitale Medien zeugen von einem Anstieg häuslicher Gewalt“, sagt Psychologin Maggie Schauer von der Uni Konstanz.
Doch wie stark der Anstieg ist – diese Frage lässt sich derzeit offenbar noch nicht beantworten. „In den ersten drei Wochen der Krise war es verhältnismäßig ruhig“, sagt eine Mitarbeiterin des Frauenhauses. „Im Moment aber ist gewisser Anstieg zu verzeichnen – wir haben Anfragen und zwar nicht zu knapp, Statistiken sind aber noch nicht bekannt.“
„Leichter Corona-Effekt“
Die Polizei bestätigt diese Aussage: „Wir beobachten für diesen Deliktbereich zwar eine Steigerung, eine überdurchschnittliche Veränderung in einzelnen Gemeinden ist allerdings bislang nicht erkennbar“, schreibt Polizei-Pressesprecherin Sandra Kratzer. „Insofern kann von einem leichten Corona-Effekt gesprochen werden.“
Frauenhäuser sind voll ausgelastet
Die Frauenhäuser im Landkreis sind laut ihrer Mitarbeiter ausgelastet, die Einrichtungen in Singen, Radolfzell, Stockach und Konstanz haben jeweils mindestens zehn Plätze. Frauen gehen in der Regel aus zwei Gründen ins Frauenhaus: „Einerseits, wenn ihre Kinder in Gefahr sind“, erklärt die Mitarbeiterin, die zum Schutz ihrer Person und der Besucher anonym bleiben möchte.
Sind Kinder im Spiel, stehen die ersten Opfer schon fest
„Andererseits kommen sie zu uns, wenn Gewalt in ihrer Beziehung eskaliert. Man kann sagen: Kinder sind immer betroffen. Wenn ihre Mutter geschlagen wird, ist das ein traumatisierendes Ergebnis, dann haben sie Todesangst um die Mutter“, sagt sie. Für Kinder sei häusliche Gewalt prägender als für Erwachsene. Sobald sie passiert und Kinder im Spiel sind, stehen die ersten Opfer fest. „Kinder sind immer Opfer“, sagt die Mitarbeiterin des Frauenhauses.
Die Experten unterscheiden zwischen personaler und situativer Ebene. „Die personale hat nichts mit Corona zu tun. Ein friedliebender und empathischer Mensch ohne Gewaltneigung wird wegen des Virus nicht zu einem Schläger“, erklärt die Mitarbeiterin des Frauenhauses.
Gewisse Situationen können zu Gewalt führen
„Anders ist die situative Ebene: stressauslösende Situationen wie Existenzängste, räumliche Enge, Drogen- oder Alkoholmissbrauch können zu Gewaltsausbrüchen führen“, berichtet sie. Gewaltbeziehungen bestünden schon lange und nicht erst seit der Coronakrise.
Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin Gesa Hansen ist skeptisch, was die Beurteilung der offenbar wenigen Fälle von häuslicher Gewalt angeht. „Ich denke, die Zahlen sind mit Vorsicht zu genießen“, sagt sie. „Wenn Kinder Vertrauenspersonen wie Erzieher oder Lehrer monatelang nicht sehen, können sie auch nicht wie gewohnt mit ihnen reden. Also fehlt die Person, die solche Fälle anzeigen könnte.“
„...da kommt man schnell an seine Grenzen“
Die Reizschwelle sei derzeit sehr niedrig. „Stellen sie sich eine berufstätige Mutter vor, die 40 Stunden arbeitet, daneben den Haushalt organisiert und die Kinder bespaßt: Da kommt man schnell an seine Grenzen.“ Um häusliche Gewalt zu beobachten, müsse man gar nicht in die Abgründe der Gesellschaft sehen, „auch Durchschnittsfamilien erreichen schnell ihre Grenzen“.
Der Allgemeine Soziale Dienst ist rund um die Uhr einsatzfähig „und gewährleistet Kinderschutz“, so Mandy Krüger vom Pressebüro der Stadt. „Meldungen an das Jugendamt von Nachbarn, Polizei oder Kinderärzten werden mit Priorität behandelt.“ Zuletzt seien mehrere Inobhutnahmen erfolgt: Kinder wurden zu deren Schutz aus dem häuslichen Umfeld herausgenommen.