Sonntag, 8. Oktober, 5.15 Uhr. Eine 20-Jährige läuft die Schottenstraße entlang und biegt am Seerhein in Konstanz auf den Webersteig ab. Ein Mann auf einem Fahrrad fragt sie nach einer Zigarette. Als sie ihm eine geben möchte, steigt er ab und beginnt sie anzufassen. Immer wieder sagt er: „Du machst jetzt, was ich sage!“
Sie reißt sich los, versucht wegzurennen. Auf Höhe der Handwerkskammer holt er sie ein und drückt sie auf die Stufen. Er droht, sie zu töten, wenn sie nicht still ist. Das Opfer schreit trotzdem um Hilfe, bis Anwohner rufen, die Polizei sei verständigt. Daraufhin flüchtet der Mann über die Fahrradbrücke.
Übergriff wird Thema in den sozialen Netzwerken
Die junge Frau wandte sich an Catcalls of Konstanz. Einen Monat später erscheint auf den Instagram-Account ein Post. „Triggerwarnung: Sexualisierte Gewalt, Morddrohung, Verfolgung“ steht auf dem ersten Bild. Darunter prangt ein Katzenkopf, das Markenzeichen von Catcalls. Auf den darauffolgenden Fotos ist die Handwerkskammer, der Ort des mutmaßlichen Übergriffs, zu sehen. Auf den Boden vor den Stufen Kreideschrift.

Plötzlich war die Nachricht auf den Handys vieler in Konstanz lebender Frauen. Auch auf dem von Melanie Thilenius. Die 23-Jährige wohnt seit einem Jahr in Konstanz. „Im ersten Moment habe ich gedacht: Warum passiert das hier? Und vor allem dort, wo auch ich sehr oft unterwegs bin.“ Das nehme ihr etwas von ihrer eigenen Sicherheit, an der sie bisher nicht gezweifelt habe.

Übergriffe wie dieser bislang ungeklärte Fall sind in Konstanz keine Seltenheit. Aus den Daten der Polizeilichen Kriminalitätsstatistik geht hervor, dass hier jeden fünften Tag eine Straftat gegen das sexuelle Selbstbestimmungsrecht angezeigt wird. Auf Landesebene hat der Wert mit 12.390 Taten 2022 ein Fünfjahreshoch erreicht.
Doch von wie vielen Fällen erfährt die Polizei gar nicht erst? Das Bundeskriminalamt führt dazu sogenannte Dunkelfeldstudien durch. Darin werden Teilnehmerinnen und Teilnehmer in ganz Deutschland zum Beispiel zu ihrem Anzeigeverhalten und ihrem Sicherheitsgefühl befragt. Erschreckendes Ergebnis: Laut der Studie von 2020 werden nur ein Prozent aller Sexualstraftaten überhaupt zur Anzeige gebracht.
„Ich laufe einfach nach Hause“
Melanie arbeitet Vollzeit als Erzieherin in einem Kindergarten und legt nachts als DJane Kichererbsenstampf auf. Sie ist viel unterwegs – auch nachts. Konstanz war und ist für sie eine sichere Stadt. Früher, als sie in der Nähe von Karlsruhe wohnte, habe sie sich dagegen oft unsicher gefühlt. Dort sei, vor allem in den Wintermonaten, der Nachhauseweg von Schule und Arbeit sehr stressbehaftet gewesen.
Auch Amy Wallner fühlte sich in Konstanz bisher sicher. Bevor sie an den Bodensee zog, um Jura zu studieren, wohnte sie in Stuttgart. Dort sei sie in der Dunkelheit meist mit dem Taxi gefahren. „Aber hier, ich weiß nicht warum, laufe ich einfach mal nach Hause“, erzählt die 21-Jährige.

Woher kommt dieses Sicherheitsgefühl? Für Melanie ist die überschaubare Größe der Stadt ausschlaggebend. „Ich kenn‘ die Ecken, die ich abends meiden würde. Und ich weiß, welche Menschen ich an diesen Stellen meiden würde. Das macht es berechenbarer.“ Gefahr verheißt vor allem der Zähringerplatz und der Bahnhof, wie die beiden jungen Frauen sagen. Dann gibt es da noch ein paar Ecken in Petershausen, an der Grenze zur Schweiz und im Industriegebiet rund um die Clubs.
Das Klischee, dass Frauen vor allem einsame Orte meiden, würden beide aber so nicht unterschreiben. Unsicherheiten und Unwohlsein seien vielmehr meist mit Situationen verknüpft, in denen sie unter vielen Menschen ist, sagt Melanie. Dazu zählt für sie auch die Altstadt: „Wenn man am Wochenende spät unterwegs ist, sind dort die ganzen Bargänger, die alle alkoholisiert sind. Da wurde ich im Sommer tatsächlich mehrfach gecatcalled. Und man denkt so: Hmmm, keine Ausweichmöglichkeit, obwohl doch gerade so viele Menschen da sind.“
Jogginghose und Pulli, um keine Blicke auf sich zu ziehen
Amy und Melanie berichten auch von Erfahrungen, die Frauen in ihrem Umfeld gemacht haben. Mit anzüglichen Kommentaren und Rufen müssen viele von ihnen regelmäßig umgehen. Das beeinflusst natürlich den Alltag. So verzichtet, laut einer Dunkelfeldstudie des BKA, mehr als die Hälfte der Frauen in Deutschland nachts auf die Nutzung öffentlicher Verkehrsmittel, um sich vor Kriminalität zu schützen. Bei Männern ist es nur knapp ein Viertel.
Auch Amy läuft lieber nach Hause oder fährt mit dem Taxi. Mit dem Bus möchte sie nicht fahren. Melanie achtet genau auf ihre Kleidung. „Wenn ich abends noch Bus fahre, dann habe ich einen Schal oder dieses typische ‚Subway Cover‘“ – soll heißen, dass sie über ihre Ausgeh-Kleidung weit geschnittene Sachen wie eine Jogginghose oder einen Pullover zieht, um keine Blicke auf sich zu lenken.
Auch Andere aus ihrem Freundinnenkreis werden in ihrem Alltag beeinflusst. „Vor zwei Monaten, kam meine Mitbewohnerin auf mich zu, und die wohnt schon seit drei Jahren hier, und meinte: ‚Ich bin heute das aller aller erste Mal alleine abends mit dem Fahrrad gefahren.‘“, berichtet Melanie.
Obwohl das Wissen darüber Sorgen bereitet, finden beide wichtig, dass Vorfälle wie der an der Handwerkskammer nach außen getragen werden. Die Kreideschrift von Catcalls of Konstanz auf der Straße lenke die Aufmerksamkeit vieler Leute auf dieses Thema. Auch Melanie hat ein Erlebnis im Sommer an Catcalls herangetragen. Warum? „Man nimmt den Tätern ein Stück weit die Macht. Und das gibt einem dann wieder das Gefühl von Sicherheit, von Rückhalt. Hey, da sind Leute, die sich meiner annehmen.“
Genau dieser Rückhalt ist auch etwas, was sich Melanie von der Stadt wünscht. „Ich könnte mir vorstellen, dass da mal Erhebungen durchgeführt werden: Anwohner, Familien, Senioren fragen: ‚Wo sind eure Stellen in Konstanz, an denen ihr euch unsicher fühlt?‘ Und diese Ergebnisse dann in die Städteplanung, in die Raumgestaltung mit einzubeziehen.“