Zu viel Nachmittagsunterricht, zu wenig Zeit für Hobbys und viel zu lange Tage: Ralf Derwing wünscht sich, dass seine Töchter im Alter von 12 und 16 Jahren wieder unter anderen Bedingungen lernen können. Beide besuchen das achtjährige Gymnasium. „Ab der Mittelstufe stellt sich die Frage: Schule oder Hobby?“, bringt der 44-Jährige es auf den Punkt.
Derwing ist laut Pressestelle der Stadt einer von 1371 Konstanzern, die für den landesweiten Volksantrag G9-Gesetz unterschrieben haben. Insgesamt hat Konstanz rund 2900 Gymnasiasten – fast jede zweite Familie unterschrieb somit.

„Bei dreimal pro Woche Mittagschule – und zwar nicht Sport und Kunst, sondern Mathe und Physik – wird das Lernen oft auf abends, nachts oder gar nicht verschoben, wenn man noch außerschulische Aktivitäten pflegen will“, sagt Derwing. Diese Art von Schule widerspreche jeder Erkenntnis zum guten Lernen: „Unter Zeitdruck, ohne viele soziale Kontakte, nur reinpressen und wieder ausspucken.“
Auch als Lehrer findet Ralf Derwing, dass G9 zurückkehren sollte: „Mir geht es auf den Geist, dass ich nicht mehr auf Vorwissen aufbauen kann, sondern von Stunde zu Stunde denken muss.“ Es gehe nicht darum, „ein Jahr mehr zu chillen“, sondern vernünftig lernen zu können.
„Viele haben sofort unterschrieben“
Um den Volksantrag zu unterstützen, ging er auch auf andere Bürger zu und sammelte Unterschriften. „Die Reaktionen waren extrem positiv, viele haben sofort unterschrieben“, sagt er. Ähnliches schildert Katrin Baumgarten, 44-jährige Mutter aus Steißlingen. Sie sammelte an vielen Orten im Hegau Unterschriften.
„Meine Tochter besucht die achte Klasse und ging letztes Jahr oft um 6.50 Uhr aus dem Haus und kam um 18 Uhr wieder zur Tür rein. Oft musste sie dann noch Hausaufgaben machen“, berichtet Baumgarten.

„Freitags ist meine Tochter schnitzelplatt und auch das Wochenende dient nicht der Erholung, weil sie dann lernen muss, wenn sie ihre Hobbys nicht an den Nagel hängen will.“ Die Mutter findet: „Der Landtag kann vor dem starken Votum der Schüler und Lehrer nicht mehr die Augen verschließen.“
Scholl-Schule stellte bereits zweimal G9-Antrag
Die Geschwister-Scholl-Schule (GSS) hatte sich bereits vor Jahren zum G9 bekannt und zweimal den Versuch unternommen, zu dieser Schulform zurückzukehren. Den ersten Antrag auf einen Modellversuch stellte die GSS am 1. März 2012 beim Kultusministerium. Sie wollte mit je zwei G8- und zwei G9-Zügen beide Geschwindigkeiten zum Abitur anbieten.
22 Modellschulen erhielten damals den Zuschlag, die GSS war nicht darunter. Zur Begründung hieß es unter anderem, Konstanz sei mit Gemeinschaftsschule und beruflichen Gymnasien gut genug mit G9-Angeboten ausgestattet. Die zweite Bewerbung der GSS für das Folgeschuljahr wurde mit dem Argument abgelehnt, der Standort sei durch die Lage zwischen See und Schweiz „räumlich isoliert“.
Wie sieht die Lage aktuell aus: Befürwortet das Kollegium der GSS die Rückkehr zu G9? Schulleiter Thomas Adam sagt: „In meiner Funktion darf ich mich zu der Initiative nicht äußern geschweige denn etwas anstoßen, daher wurde im Kollegium kein Stimmungsbild eingeholt.“

Etwas deutlicher wird Patrick Hartleitner, Leiter des Suso-Gymnasiums und Geschäftsführender Schulleiter der Konstanzer Gymnasien: „Grundsätzlich ist die Auffassung aller Schulleitungen an den Konstanzer Gymnasien, dass eine Rückkehr zu einem Modell G9, wie es bis 2003 praktiziert wurde, nicht denkbar ist.“
Sobald der politische Wille im Land Baden-Württemberg erkennbar sei, erneut flächendeckend das neunjährige Gymnasium einzuführen, müssten Modelle erarbeitet werden, „die die schulische und gesellschaftliche Realität abbilden können“, so Hartleitner. Hier sei vieles denkbar: „Auch spezielle Angebote wie der Hochbegabtenzug könnten sicher in ein Konzept eingebunden werden.“

Was bedeutet G9 für die Stadt Konstanz?
Auf die Infrastruktur der Konstanzer Gymnasien hätte die Rückkehr zu G9 deutliche Auswirkungen, sagt die Verwaltung auf Nachfrage. „Bei flächendeckender Einführung hätten wir an Konstanzer Gymnasien insgesamt 14 bis 16 Räume zu wenig“, teilt die Pressestelle mit.

Darüber hinaus hätte die Stadt weitere Hürden zu bewältigen: „Wir bräuchten zusätzliches Lehr- und Lernmaterial und müssten weitere Sportstunden unterbringen, obwohl die Kapazitäten unserer Sporthallen ohnehin sehr knapp sind“, so die Stadt.
Außerdem könne G9 auch Auswirkungen auf die Schulentwicklung insgesamt haben. Denn die Schulen, die schon das neunjährige Gymnasium anbieten (berufliche Schulen und Gemeinschaftsschule), würden dann eventuell weniger stark nachgefragt, so die Verwaltung.

Für sie sind diese Szenarien bislang nur Theorie. „Das Thema Wiedereinführung G9 wurde im Rahmen der aktuellen Schulentwicklungsplanung zwar intern diskutiert, wurde aber aufgrund des derzeit laufenden Verfahrens nicht als aktuelles Entwicklungsszenario aufgenommen“, teilt die Pressestelle mit.