Harry Fuchs hat den Schritt gewagt, vor dem viele ältere Menschen Angst haben: Im Alter von 68 Jahren ist er mit seiner Frau aus Winnenden bei Stuttgart weggezogen und hat sich in Konstanz, dem Wohnort der Tochter, eine barrierearme Wohnung gesucht. „Unsere Tochter hat gesagt: Wenn ihr später Hilfe braucht, kann ich nicht immer 200 Kilometer fahren“, erzählt der 73-Jährige.
Einfach war der Neubeginn nicht: „Zum einen hat es eine Weile gedauert, bis wir was Passendes gefunden haben. Zum anderen hat der Verkauf unserer größeren Wohnung in Winnenden nicht gereicht, um die in Konstanz zu finanzieren“, so Fuchs.
Und drittens zogen sie 2019 um, mitten in der Corona-Pandemie. Das Eingewöhnen in eine neue Nachbarschaft wurde dem Ehepaar noch zusätzlich erschwert. Doch die beiden bereuen den Schritt nicht, wenn sie an ihre Zukunft denken. „75 Prozent der Leute wollen so lange wie möglich in ihrer eigenen Wohnung bleiben, aber 75 Prozent der Wohnungen sind dafür nicht geeignet“, weiß Harry Fuchs.

Wie Recht er damit hat, bestätigt Matthias Günther. Der Chef-Ökonom und Leiter des Pestel-Instituts, das sich in Forschung und Beratung vor allem um regionale Wirtschaft, Wohnungsmärkte und Demografie kümmert, findet deutliche Worte: „Der Wohnungsmarkt im Kreis Konstanz ist mit der neuen Rentnergeneration der geburtenstarken Jahrgänge überfordert. Wenn die Babyboomer im Jahr 2035 komplett im Ruhestand sind, gibt es im Kreis Konstanz 73.000 Rentner, das sind knapp 13.000 mehr als heute.“
Das Problem dabei: Schon heute fehlen laut Günther viele seniorengerechte Wohnungen. Während aktuell etwa 10.800 barrierearme oder -freie Unterkünfte im Kreis Konstanz benötigt würden, werden es laut seinen Berechnungen in 20 Jahren sogar 15.500 sein. „Das gibt der Markt bei weitem nicht her, der Kreis Konstanz rast mit 100 Sachen auf die graue Wohnungsnot zu“, sagt Günther.

Dabei ist nicht einmal der Umstand eingerechnet, dass ein Großteil altersgerechter Wohnungen gar nicht von Senioren bewohnt wird, sondern von Familien mit Kindern. Der errechnete Bedarf wäre also eigentlich noch höher. „Denn wo das Leben mit einem Rollator klappt, da kommt man auch mit einem Kinderwagen klar“, begründet er. Barrierearmut ist eben auch ein Komfortmerkmal. „Und Komfort wird in der Regel über den Preis und nicht nach Bedürftigkeit vergeben“, so Günther.
Daraus ergibt sich ein weiteres Problem, denn ein Umbau kostet Geld und schraubt die Miete nach oben, was sich viele ältere Menschen nicht leisten können. Aber auch Eigentum verpflichtet – nämlich zum rechtzeitigen Umrüsten fürs Leben im Alter.

Auf die lange Bank geschoben
Die düstere Prognose bestätigt Winfried Kropp, Vorsitzender des Mieterbunds Bodensee. Er sieht aber ein Stück Verantwortung bei den Senioren selbst: „Die Frage nach Barrierefreiheit stellt sich meist erst dann, wenn es zu spät ist, das nennen wir Versorgungsparadoxon. Denn solange die Menschen noch fit sind, schieben sie diese Frage gern auf die lange Bank.“
Der Wohnungs-Experte ist dennoch froh über den Weckruf des Pestel-Instituts: „Die Analyse ruft laut zum Handeln auf. Ich hoffe, das wird auch von Entscheidungsträgern gehört“, so Kropp. Matthias Günther sieht vor allem die Bundespolitik in der Pflicht. Neben seniorengerechten Neubauten sei vor allem eine Sanierungsoffensive nötig.

Der Mieterbund Bodensee fordert ebenfalls eine deutliche Erhöhung der Zuschüsse und mehr zweckgebundene Mittel für den Bau seniorengerechter Wohnungen. Doch Geld allein löst das Problem nicht. „Viele Eigentümer sind mit der Planung eines barrierearmen Umbaus überfordert“, sagt Kropp.
Deshalb brauche es mehr Beratungsangebote. Ein Baustein sind ehrenamtliche und kostenlose Wohnberater im Kreis Konstanz wie Harry Fuchs, der sich auch beim Stadtseniorenrat Konstanz und dem Kreisseniorenrat engagiert.

„Wir würden gern weitere Wohnberater finden, außerdem planen wir die Einrichtung einer barrierearmen Musterwohnung im Kreis Konstanz, denn die Menschen wollen die Dinge ‚be-greifen‘, die wir erzählen“, sagt Fuchs. Für das Projekt sucht der Kreisseniorenrat einen Träger.
Treppenstufen, Schwellen, zu wenige Handläufe, zu niedrige Steckdosen – die Liste an Hürden fürs Leben im Alter ist lang. „Dazu kommt die Sorge, ob man all seine Sachen in einer kleineren Wohnung unterbringt“, weiß Harry Fuchs. Er rät deshalb: „Die Menschen müssen frühzeitig anfangen, sich von Dingen zu trennen, Keller und Garage ausmisten.“
Wohnungstausch ist auch nicht einfach
Wenn ein Umzug unumgänglich ist, wäre die Möglichkeit eines Wohnungstauschs attraktiv. Dieses Instrument möchte der Mieterbund Bodensee schon lange voranbringen, doch die juristischen und organisatorischen Hürden sind groß.
Neben dem fehlenden rechtlichen Rahmen tut sich ein weiteres Problem auf: „Es gibt zwar viele Tauschgesuche in Vermietungsportalen, aber asynchron“, so Kropp. Damit meint er: „Viele Familien mit Kindern suchen eine größere Wohnung, aber nur wenige ältere Menschen würden gern in eine kleinere umziehen.“

Wo liegt nun der Schwarze Peter beim Mangel an barrierearmem Wohnraum? Winfried Kropp sieht es so: „Für eine erfolgreiche soziale Wohnungspolitik müssten Bund, Länder, Gemeinden und die Wohnungswirtschaft gut zusammenarbeiten. Das geschieht leider nicht ausreichend.“
Einen Schwarzen Peter gebe es nicht. „Ein erhebliches Potenzial für eine bessere Wohnungspolitik, die die Bedürfnisse breiter Schichten der Bevölkerung im Blick hat, dagegen schon“, findet Kropp.