Die Erinnerung bringt manchmal Dinge zusammen, die eine falsche Fährte legen. Es war warm und sonnig an jenem Tag. Wir Pfadfinder arbeiteten bei der Aktion „Flinke Hände, flinke Füße“ nur in der Kluft, also in einem wollenen Hemd und ohne Jacke. Wir sammelten alte Kleider in Radolfzell und Markelfingen ein. Sie lagen in Kartons oder gebündelt am Straßenrand. Wir Pfadfinder hoben die Kartons auf die Ladeflächen der Militärunimogs oder warfen die Bündel hinauf. Die Fahrer waren Soldaten der französischen Garnison in Radolfzell. Sie hatten den Befehl, uns und das gesammelte Material zu transportieren. Wir fuhren aufgeteilt in Fünfer- und Sechsergruppen mit, zwei in der Fahrerkabine, die anderen auf der Ladefläche. Die Haare im Wind, freuten wir uns des Lebens. Kalt war keinem.

Der Samstag vor Palmsonntag

So hat die Erinnerung den frühen Morgen abgespeichert. Nach diesen Eindrücken müsste es eher ein Samstag vor Pfingsten gewesen sein. Doch es war der Samstag vor Palmsonntag, es war der 25. März 1972. Und so warm der Frühlingstag war, er lässt uns Pfadfinder von damals immer noch schaudern. Im Laufe des Morgens erreichte uns aufgekratzte Jungs auf den Ladenflächen die Nachricht: „Klaus ist tot.“

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Von wem und wie die Nachricht auf unseren Unimog kam, ich weiß es nicht mehr. Hubert Jauch aus meiner Sippe vermag sich zu erinnern: „Wir waren an den Güterhallen am Bahnhof und haben die Kleider auf Güterwaggons umgeladen.“ Plötzlich machte die Nachricht die Runde, es sei etwas Schreckliches passiert, ein Fahrzeug sei auf der Straße von Markelfingen nach Allensbach verunglückt. Ein Klaus sei tot. Auf der „Schutte“, so nannte man die Deponie hinter Markelfingen, sollten die alten Kartons und nicht brauchbare Textilien abgeladen werden.

Klaus Liebsch als Pfadfinder, vermutlich 1970 im Lager Doren. Bild: Album Liebsch
Klaus Liebsch als Pfadfinder, vermutlich 1970 im Lager Doren. Bild: Album Liebsch | Bild: Privat Album Liebsch

Auch unser Unimog machte sich nach dem Abladen mit dem unbrauchbaren Material dorthin auf den Weg. Die Stimmung auf der Pritsche änderte sich schlagartig, wir schauten uns ängstlich in die Gesichter, wir wollten, dass der Soldat am Steuer des Unimogs langsam fährt, wir klammerten uns an den Ladeklappen der Pritsche fest, wir wollten, das alles nicht wahr ist, Klaus durfte nicht tot sein.

Der Tausch der Plätze

Aber es war wahr. Stefan Neumeir, mittlerweile 63 Jahre alt, Stadtrat für die CDU in Radolfzell und Schreinermeister in Markelfingen, saß damals als Jungpfadfinder neben Klaus Liebsch in der Fahrerkabine am Fenster. Zuerst nahm Klaus direkt neben dem Fahrer in der Mitte der Sitzbank Platz, wie Stefan Neumeir 50 Jahre später berichtet: „Klaus konnte Französisch, er hat den Fahrer in Radolfzell dirigiert.“ In Markelfingen, am Gasthaus Schützen, habe Klaus dem Soldaten gesagt, er solle den Unimog anhalten. „Wir tauschten die Plätze, ich sollte dem Soldaten zeigen, wo er von der alten Bundesstraße in den Feldweg zur Schutte abbiegen konnte.“ Klaus Liebsch setzte sich ans Fenster.

Der Lastwagen kippt um

Zwei Minuten später und zwei Kilometer weiter endete das Leben von Klaus Liebsch. Beim Abbiegen auf den Feldweg fuhr von hinten ein Auto auf und brachte den Unimog zum Kippen. Die Brüder Matthias und Jürgen Knoll, Harald Frank sowie Alexander Frittrang sprangen hinten von der Pritsche, der Unimog lag quer auf der Beifahrerseite. Stefan Neumeir begriff zunächst nicht, was passiert war: „Ich bin auf Klaus gelegen, habe mich aufgerappelt und gerufen: Klaus komm‘ hier raus.“ Der französische Soldat habe ihn dann aus dem Unimog gezogen. „Der Fahrer hat wohl gesehen, dass da nichts mehr zu machen ist.“ Im Zeitungsbericht des SÜDKURIER am Montag darauf hieß es: „Der junge Klaus prallte mit dem Kopf gegen die Halterung der Windschutzscheibe. Der umstürzende Lastwagen begrub den Buben unter sich. Ein zufällig hinzukommender Arzt konnte nur seinen sofortigen Tod feststellen.“

Dieses Foto veröffentlichte der SÜDKURIER am 27. März 1972. In der Bildunterschrift stand: „So sah es an der Unfallstelle aus, ...
Dieses Foto veröffentlichte der SÜDKURIER am 27. März 1972. In der Bildunterschrift stand: „So sah es an der Unfallstelle aus, rechts der umgekippte Lastwagen, links der Personenwagen, der von hinten aufgefahren war.“ | Bild: Bild: Glunz, Repro Florian Hoffmann

Stefan Neumeir erinnert sich, dass ziemlich schnell viele französische Soldaten eingetroffen waren. Ein Offizier habe sich der jungen Pfadfinder angenommen und sie beruhigt. „Er konnte Deutsch und hat uns mit an den Waldrand genommen und gesagt: Alles gut, Kollege wird versorgt.“ Stefan Neumeir hält diese Ansprache des Offiziers auch in der Rückschau für richtig: „Keiner von uns hatte einen Kratzer abbekommen, aber für unser Seelenheil war das besser so.“

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Kurz darauf klingelte „Frau Blum“ bei Ulrike und Helmut Haselberger in Markelfingen, ihr Haus war so etwas wie die Geschäftsstelle der St. Georgs-Pfadfinder. Ulrike Haselberger war zuhause, sie nahm die schlechte Nachricht in Empfang, es sei bei der Pfadfinder-Aktion ein Unfall passiert, ein Klaus sei tot. Ulrike Haselberger rief in der Güterhalle an, wo ihr Mann Helmut mit Stammesleiter Friedrich Liebsch das Umladen der Altkleidersammlung organisierte. Friedrich Liebsch war der Vater von Klaus Liebsch. „Wir fuhren zusammen nach Markelfingen und hatten die Frage im Kopf: Welcher Klaus?“, erinnert sich Helmut Haselberger, der heutige Ehrenbürger von Radolfzell. Die nicht ausgesprochene Frage lag nahe, es gab damals drei Pfadfinder im Stamm mit dem Vornamen Klaus.

Der Vater identifiziert seinen Sohn

Am Unglücksort eingetroffen, sollten, mussten die beiden Pfadfinderleiter Helmut Haselberger und Friedrich Liebsch den Toten identifizieren. Über dem Leichnam lag eine Plane. Als sie die Plane anhoben, entfuhr Friedrich Liebsch ein Schrei, er hatte seinen Sohn erkannt. Stefan Neumeir beobachtete vom Waldrand aus mit den anderen Jungs die Szene. „Wir sind vor Schreck in den Wald gerannt.“ An der Schutte habe sie Bauer Stefan Blum, der von seinem Hof gekommen war, „gepackt, auf den Traktor gesetzt und heimgefahren“.

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Die Aktion „Flinke Hände, flinke Füße“ fand ein tragisches Ende. Die Erinnerung an diesen Morgen hat etwas Trügerisches, alle die dabei waren, haben unterschiedliche, persönliche Bilder im Kopf. Sie sind geblieben, weil es doch nicht wahr sein sollte. 1972 brachte die Sängerin Juliane Werding die Ballade „Der Tag, als Conny Kramer starb“ heraus. Palmsamstag 1972 war der Tag, als Klaus Liebsch starb. Und alle Freunde weinten um ihn.

Die Zahl der tödlich verunglückten Jugendlichen hat deutlich abgenommen

  • Klaus Liebsch starb nur wenige Tage vor seinem 16. Geburtstag. Sein Vater Friedrich Liebsch leitete in den Siebziger Jahren den Pfadfinderstamm Sankt Meinrad und war Oberamtmann bei der Post in Radolfzell. Mutter Marta war eine geborene Enz, eine bekannte Radolfzeller Familie, vor allem durch ihre Brüder: Franz Enz war Professor an der Pädagogischen Hochschule Freiburg für Theologie und Religionspädagogik, Berthold Enz war Stadtpfarrer in Wiesloch – er ist am Hausherrenfest in Radolfzell immer noch präsent. Winfried Enz ist ein bekannter Organist und war früher Verwaltungsdirektor des Senders Arte.
  • Zahl von jungen Unfalltoten: Das Statistische Bundesamt meldet 2114 Kinder unter 15 Jahren und 1022 Jugendliche im Alter zwischen 15 und 18 Jahren, die bei Straßenverkehrsunfällen im Jahr 1972 im früheren Bundesgebiet ums Leben kamen. Diese Zahl ist in den vergangen fünf Jahrzehnten deutlich zurückgegangen. Die abgeschlossene Erhebung des Statistischen Bundesamts für das Jahr 2020 listet für Kinder unter 15 Jahren 48 Todesfälle auf und für Jugendliche zwischen 15 und 18 Jahren 64 Todesfälle.
  • Juliane Werding hat den Song „Am Tag, als Conny Kramer starb“ im Frühjahr 1972 veröffentlicht. Sie selbst war damals erst 15 Jahre alt. In diesem Lied besingt Juliane Werding das Schicksal eines Freundes, der als erster Drogentoter der Stadt Essen gilt. Die Single mit der Liedzeile „Am Tag, als Conny Kramer starb und alle Freunde weinten um ihn, das war ein schwerer Tag, weil in mir eine Welt zerbrach“ verkaufte sich über eine Million Mal.
  • Die Pfadfinderaktion „Flinke Hände, flinke Füße“ hatte 1972 das Motto „Hilfe für Gino und Rosa“ und sollte Gastarbeiterkinder unterstützen. Ursprünglich entstammt das Motto „Flinke Hände, flinke Füße“ dem ersten Aufruf der Deutschen Pfadfinderschaft Sankt Georg (DPSG) zu einer Jahresaktion im Jahre 1961 für körperbehinderte Jugendliche, es wurden rund 250.000 DM zusammengetragen.