Irina Shudra und Vitaliy Tomniuk erinnern sich noch an den Moment, in dem sich in ihrem Leben alles änderte. Als Russland vor rund einem Jahr in ihr Heimatland Ukraine einmarschierte und der Krieg begann. Um vier Uhr nachts erfuhren sie jeweils von der Invasion. Irina Shudra berichtet von tausenden Nachrichten, die sie erreichten. „Ich konnte nicht glauben, dass das tatsächlich passiert ist“, sagt sie, und ihr kommen auch heute noch die Tränen.
Vitaliy Tomniuk wurde von seiner Frau geweckt. Und er hörte von seinem Wohnort in Kiew erste Schüsse, Explosionen und Sirenenlärm. Eigentlich hätte er einen Tag zuvor, am 23. Februar 2022, eine länger geplante Reise nach Italien unternehmen sollen. Doch er habe die Entwicklungen im Vorfeld des Kriegsbeginns bereits genau beobachtet und sich daher dagegen entschieden. Nicht nur sie beide hat der Moment geprägt. Auch die Ukrainerin Julia Burth, die in Radolfzell lebt und beim Treffen mit dem SÜDKURIER übersetzt, erinnert sich noch an den Anruf ihres Vaters in der Nacht und wie er ihr vom Kriegsbeginn berichtete. „Seine Worte vergesse ich nie.“
Sirenenlärm und Schutzsuche im Keller
Am 24. Februar verließ Vitaliy Tomniuk seinen Wohnort schließlich doch, gemeinsam mit seinen zwei Kindern und seiner Frau – ohne Ziel zunächst, Hauptsache raus aus Kiew und an einen sichereren Ort, wie er berichtet. Später ging es dann mit dem Auto über Ungarn und Österreich nach Deutschland, wo sie in Radolfzell eine Wohnung fanden. „Wenn sie nicht so klein gewesen wäre, hätte ich vermutlich anders reagiert“, sagt er angesichts seiner Tochter, die erst zwei Monate auf der Welt war. Auch wegen seines siebenjährigen Sohnes hätten sie schnell handeln müssen.
Seit Ende März lebt Vitaliy Tomniuk nun mit seiner Familie in Radolfzell. Irina Shudra kam bereits Anfang März aus der Ukraine in die Stadt, gemeinsam mit ihrer Tochter, ihrer Mutter und einem einzigen Koffer voller Fotos und Dokumente. Ihr erwachsener Sohn lebe bereits seit fünf Jahren in Radolfzell, er habe sich um sie gekümmert. „Meine Tochter hatte sehr große Angst“, sagt Irina Shudra, und berichtet von den Erlebnissen in ihrer Heimatstadt Perwomaisk – von Bombenalarm und dass sie Schutz im Keller suchten. Ihre Tochter und auch ihr Sohn in Deutschland hätten vor Stress und Sorge innerhalb kurzer Zeit stark abgenommen. Alleine habe Irina Shudra aber ihre Heimat nicht verlassen wollen.
Dankbarkeit für Hilfe und Verständnis
In Deutschland anzukommen, war sowohl für Irina Shudra, als auch für Vitaliy Tomniuk gar nicht so einfach. Nicht nur, weil sie die Sprache nicht beherrschten und sich außerdem in einer völlig neuen Umgebung wiederfanden. Sondern auch, weil vieles in Deutschland so anders sei als in der Ukraine. Da seien etwa die vielen Papiere, die sie brauchten. „In der Ukraine läuft alles elektronisch“, schildert Irina Shudra. Beim Zurechtfinden halfen Irina ihr Sohn, dessen Frau sowie Freunde. Vitaliy Tomniuk wiederum wurde von Julia Burths Mann in vielen Dingen unterstützt.
Überhaupt heben Vitaliy Tomniuk und Irina Shudra die Hilfsbereitschaft und das Verständnis hervor, die sie in Radolfzell erleben – nicht nur von Deutschen, auch von Ukrainern, Kasachen, Usbeken und Russen, die hier wohnen. Er sei unter anderem der Familie, die ihm eine Wohnung zur Verfügung gestellt habe und mittlerweile auch viel mit seinen Kindern unternehme, sehr dankbar, sagt Tomniuk. Und den Spendern, die ihnen Kleidung und Matratzen schenkten, nachdem sie so gut wie nichts mit nach Deutschland genommen hatten. „Ich fühle mich gut aufgenommen und geschützt in Radolfzell“, betont Shudra.
In Gedanken in der Heimat
Dennoch wütet der Krieg weiter und prägt auch in Radolfzell den Alltag der Ukrainer. „Wie jeder Ukrainer hier haben wir immer das Handy in der Hand“, schildert Irina Shudra. Nicht nur über die staatlichen Nachrichten, sondern auch über Telegram-Kanäle und persönliche Kontakte in ihr Heimatland verfolgen sie die Entwicklungen des Krieges. Vitaliy Tomniuk erzählt, im ersten halben Jahr nach Kriegsbeginn habe der Akku seines Handys gerade einmal einen halben Tag lang gehalten, weil er es „jede Minute, jede Sekunde“ genutzt habe. Jeden Alarm, jede Explosion in seinem Heimatland habe er verfolgt. „Jeden Moment kann etwas passieren, das nicht rückgängig gemacht werden kann“, erklärt er.
Am schlimmsten sei, dass sie noch Verwandte und Freunde in der Ukraine haben. Tomniuks Vater und Mutter etwa hätten sich dazu entschieden, das Land nicht zu verlassen. Während der Kämpfe und Bombardierung in Kiew sei das Mobilfunknetz sehr schwach gewesen, Verwandte seien dadurch nur schwer zu erreichen gewesen. „Diese Minuten waren das Schlimmste.“
Sie hatten ein Leben mit Job und Zielen
Nicht nur Familie und Freunde blieben in der Ukraine zurück. „Man baut sein Leben auf, man hat einen Job und Ziele, die eigentlich erfüllt sind“, sagt Vitaliy Tomniuk. Irina Shudra etwa hatte ihr Haus vor dem Krieg noch renoviert, wie sie berichtet. „Und an einem Tag verliert man alles.“
Dass sie nun in Deutschland sind, sorge für zwiegespaltene Gefühle: Zum einen habe sie ein schlechtes Gewissen, weil sie nicht vor Ort in der Ukraine helfen könne, sagt die zweifache Mutter. Zum anderen sei ihr aber bewusst, dass sie in Radolfzell viel mehr für die Menschen in ihrem Heimatland tun könne.
In Radolfzell Spenden sammeln für die Ukraine
Denn sie und Vitaliy Tomniuk, der kürzlich in den Vorstand eines neuen ukrainischen Vereins in Radolfzell gewählt wurde, setzen sich nicht nur dafür ein, den Deutschen ihre Kultur näher zu bringen und für die erfahrene Unterstützung etwas zurück zu geben. Mit Aktionen wie dem Unabhängigkeitsfest in Radolfzell und einem ukrainischen Stand am Christkindlemarkt sammelten sie zusätzlich auch Geld, um das ukrainische Militär zu unterstützen und etwa Generatoren und Medikamente für die Soldaten zu kaufen.
Auch für die anderen ukrainischen Flüchtlinge vor Ort setzen sie sich ein. Gemeinsam mit der Stadt Radolfzell sei so etwa eine Betreuung für ukrainische Kinder in der Villa Bosch entstanden. Jeden Samstag könnten sie für zwei Stunden gemeinsam unter anderem basteln oder Handarbeiten machen.
„Man weiß nicht, was morgen kommt“
Was die Zukunft bringt, wissen Irina Shudra und Vitaliy Tomniuk nicht. „Man weiß nicht, was morgen kommt“, sagen sie mit Blick auf den Krieg. Wenn dieser einmal vorbei ist, wollen zwar die meisten Ukrainer wieder in ihre Heimat zurückkehren. Aber es gebe auch solche, die sich eine Zukunft in Deutschland vorstellen können. Irina Shudras Tochter etwa mache gerade ein freiwilliges soziales Jahr in einem Kindergarten und möchte künftig in Deutschland studieren. Und auch Vitaliy Tomniuks Sohn spreche bereits sehr gut Deutsch. Eines weiß Tomniuk aber heute schon: „Radolfzell bleibt eine ganz besondere Stadt in unserem Herzen.“
In der aktuellen Situation dürfe die Unterstützung der Ukraine aber nicht aufhören. „Die Ukrainer zahlen einen sehr hohen Preis“, sagt Irina Shudra und meint die täglichen Toten, die der Krieg fordert. Die Männer, die in ihrem Heimatland kämpfen, würden auch den Rest Europas verteidigen. Sowohl Irina Shudras, als auch Vitaliy Tomniuks Wunsch für die Zukunft lautet daher, dass der Krieg möglichst bald ein Ende finde. „Und jede Mutter ihren eigenen Sohn, jede Frau ihren eigenen Mann umarmen und jedes Kind mit seiner ganzen Familie und beiden Eltern in der Ukraine leben kann“, so Tomniuk.