Der Luftalarm geht mitten im Gespräch los. „Jetzt können Sie gleich den Alarm hören“, hatte Julia Tutovskaya noch wenige Sekunden zuvor gesagt. Dann ertönt ein schriller Ton und eine sonore Männerstimme sagt etwas auf Ukrainisch. Der Ort: ein Studierendenwohnheim in Kiew. Die Zeit: ein paar Tage vor dem 24. Februar, dem ersten Jahrestag des russischen Angriffs auf die Ukraine. Der Anlass: ein Gespräch über einen Internet-Telefondienst mit der jungen Frau, die aus Singens ukrainischer Partnerstadt Kobeljaki stammt.

Bereits kurz nach Kriegsausbruch konnte der SÜDKURIER mit ihr über die Lage in der Partnerstadt sprechen. Nun ist ein Jahr vergangen und ein Kriegsende nach wie vor nicht in Sicht. „Natürlich gewöhnt man sich nie daran“, sagt Tutovskaya, die internationale Beziehungen an der Universität in Kiew studiert: „Aber wir müssen irgendwie unser Leben weiterleben.“ Daher hätten alle in der Ukraine inzwischen mobile Ladegeräte, auch als Power Bank bekannt, an vielen Stellen gebe es Stromgeneratoren – die von Russland verursachten Schäden an der Infrastruktur sorgen für regelmäßige Stromausfälle.

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Die erste Phase des Krieges hat Tutovskaya in ihrer Heimatstadt Kobeljaki verbracht – weil diese mit ihren etwa 10.000 Einwohnern deutlich kleiner und ruhiger ist als die Millionenstadt Kiew. Ihre Eltern hätten sie am Tag des Kriegsausbruch zu sich nach Hause geholt, sagte sie vor knapp einem Jahr. Seit September sei sie aber wieder in Kiew, um ihr Studium zu verfolgen, erzählt die 19-Jährige nun. Die Kurse würden derzeit ausschließlich online stattfinden. Ein Jahr ihres derzeitigen Studiengangs sei noch übrig. Und eines der Studienjahre hat sie im Krieg verbracht.

Jedes Zimmer hat inzwischen einen Alarm

Ein Jahr Krieg hinterlässt Spuren. Sie bewohne ein Wohnheimzimmer mit einer Freundin, erzählt Tutovskaya. Jedes der Zimmer habe inzwischen eine Alarm-Einheit bekommen. Wenn der Alarm auslöse, schaue sie zuerst in einem Internet-Messengerdienst nach, in dem die Regierung Informationen veröffentliche. Im Falle dieses Alarms handelte es sich um ein gestartetes Flugzeug, das keine Raketen an Bord hatte. Tutovskaya bleibt in ihrem Zimmer und setzt das Gespräch fort. „Wenn es ein Flugzeug mit Raketen gewesen wäre, wäre ich in den Keller gegangen“, sagt sie. Denn im Keller des Wohnheims gebe es einen Bunker.

Wohltätigkeitsveranstaltungen für das Militär gehören zum Alltag in der Ukraine: ein Bild aus Singens Partnerstadt Kobeljaki vom Februar ...
Wohltätigkeitsveranstaltungen für das Militär gehören zum Alltag in der Ukraine: ein Bild aus Singens Partnerstadt Kobeljaki vom Februar 2023. | Bild: Tatjana Timoschenko

„Russland weiß, dass der Alarm losgeht, wenn ein Flugzeug abhebt“, sagt Tutovskaya. Oft genug seien die Jets nicht bewaffnet, sondern würden nur starten, um die Menschen in Unruhe zu versetzen. Denn selbstverständlich würde man sich genau überlegen, ob man während eines Alarms aus dem Haus gehe.

Die Angst ist ein ständiger Begleiter

Die Angst ist ein ständiger Begleiter. Die Angst davor, dass eine Rakete ins Wohnheim einschlägt. Die Angst, dass sich Glassplitter durch den eigenen Körper bohren könnten. Die Angst, wenn Detonationen zu hören sind und buchstäblich die Gebäude zum Beben bringen. Und nun, kurz vor dem ersten Jahrestag des Kriegsbeginns, ist die Verunsicherung noch größer: Was plant der Angreifer?

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Obwohl sich ihr Lebensmittelpunkt wieder nach Kiew verlagert hat, hat Tutovskaya nach wie vor Informationen über das Leben in ihrer Heimatstadt. In der Anfangsphase des Krieges hat sie mit Freiwilligenarbeit Unterstützung für die Truppen geleistet. Die Kontakte in die Heimat sind geblieben. Dort sei die Lage zwar deutlich ruhiger als in größeren Städten, sagt Tutovskaya. Aber man könne Raketenexplosionen in Krementschuk hören. Laut Internet-Karte liegen beide Städte etwa 70 Kilometer Luftlinie voneinander entfernt.

Das sagt die Partnerschaftsbeauftragte

Die jüngste Spende aus Singen, die in die ukrainische Partnerstadt Kobeljaki ging: ein Löschfahrzeug, das die Feuerwehren aus Singen und ...
Die jüngste Spende aus Singen, die in die ukrainische Partnerstadt Kobeljaki ging: ein Löschfahrzeug, das die Feuerwehren aus Singen und Engelsbrand organisiert haben. Das Fahrzeug ist im Januar in Kobeljaki ankommt. Ganz rechts Kommandant Viktor Popruga. | Bild: Stadt Singen

Ihre Freunde und Familienmitglieder würden nachts mitunter auch Drohnen über der Stadt fliegen hören, schildert die 19-Jährige – „eine sehr beängstigende Situation“. Denn niemand weiß, wo und wann die Drohnen, die von Russland eingesetzt werden, ihre zerstörerischen und todbringenden Sprengkörper abwerfen.

Freiwilligenarbeit bleibt wichtig

Die Freiwilligenarbeit zur Unterstützung der Streitkräfte ist weiterhin ein wichtiger Teil des gesellschaftlichen Lebens. Ihr eigenes ehrenamtliches Engagement laufe darauf hinaus, Geld zu sammeln, um die Truppen zu unterstützen, berichtet Tutovskaya. Sie weiß, dass manch einer irritiert sei, dass Geld für Waffen gespendet werde. Doch es gehe darum, Freunde, Brüder und Väter zu schützen. Daher würden sich auch die dringenden Appelle aus ihrem Land erklären, Waffen zu liefern: „Täglich sterben Menschen.“

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Auch Tutovskaya nutzt das Gespräch für einen Appell: „Man darf diesen Krieg nicht vergessen. Nach wie vor sterben Menschen und wir brauchen nach wie vor Unterstützung.“ Man müsse verstehen, dass dieser Krieg nicht allzu bald aufhören werde. Die Menschen seien inzwischen kriegsmüde, gibt sie die Stimmung vor Ort wider: „Natürlich wollen wir, dass der Krieg aufhört.“ Aber es gebe für Ukrainer nur eine Möglichkeit dafür, nämlich dass alle ukrainischen Gebiete wieder frei sind.

Das Bild vom September 2022 zeigt von einem Raketenangriff zerstörte Gebäude im Kiewer Vorort Borodjanka. Julia Tutovskaya hat das Foto ...
Das Bild vom September 2022 zeigt von einem Raketenangriff zerstörte Gebäude im Kiewer Vorort Borodjanka. Julia Tutovskaya hat das Foto aufgenommen, ein Freund von ihr lebte in dem Gebäude. Borodjanka soll auch der Schauplatz eines Massakers an der ukrainischen Zivilbevölkerung gewesen sein. | Bild: Julia Tutovskaya

Zumal der Krieg schon nach der Besetzung der Halbinsel Krim im Jahr 2014 ins Land gekommen sei. Damals habe man zu wenig darauf geachtet. Wenn man den Krieg nun vergesse, könne er sich bald weiter ausbreiten, ist Tutovskayas Befürchtung: „Bitte vergesst uns nicht.“

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Kurz nach dem Luftalarm während des Gesprächs kommt die Entwarnung, mit derselben sonoren Männerstimme. Und vorübergehend kann der Alltag weitergehen – bis zum nächsten Alarm.