Was wird übrig bleiben nach Putins Feldzug gegen die Ukraine? Wilhelm Josef Waibel sieht seine jahrzehntelange Friedensmission in Gefahr. Der Singener Ehrenbürger hatte mit seiner akribischen Geschichtsarbeit die Spuren ehemaliger ukrainischer Zwangsarbeiter offen gelegt und sich in einem beispiellosen Akt der Völkerverständigung für Wiedergutmachung eingesetzt.

Viele der Menschen, die im Zweiten Weltkrieg in der Singener Großindustrie und bei Hegauer Bauern unter schwierigsten Bedingungen arbeiten mussten, kamen aus der Region Poltawa und besonders aus Kobeljaki. Waibel erwarb sich mit seinen Gesprächen und Hilfsaktionen das Vertrauen der früheren Zwangsarbeiter. Anfang der 1990er Jahre wurde eine offizielle Partnerschaft zwischen Singen und Kobeljaki besiegelt.

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Jetzt sitzt Waibel zusammen mit der Partnerschaftsbeauftragten Carmen Scheide im Café und tauscht sich über die Entwicklungen im kriegsgeschüttelten Land aus. Seine eigenen Kontakte sind weitgehend versiegt – entweder, weil die Menschen gestorben sind oder weil sie aus Angst vor Repressalien nicht mehr mit ihm kommunizieren wollen. Auch Carmen Scheide betrauert den Verlust zweier Freunde in Koblejaki. „Sie reagieren nicht mehr auf Anfragen und wollen nichts mehr mit mir zu tun haben“, sagt sie. „Sie geben Deutschland mit die Schuld an dem russischen Angriff auf die Ukraine.“

Die Partnerschaftsbeauftragte für Kobeljaki Carmen Scheide und der Gründer der Städtepartnerschaft, Wilhelm Josef Waibel, tauschen ...
Die Partnerschaftsbeauftragte für Kobeljaki Carmen Scheide und der Gründer der Städtepartnerschaft, Wilhelm Josef Waibel, tauschen Informationen über die Lage in der Ukraine aus. Carmen Scheide weiß: Es gibt immer mehr Begräbnisse. | Bild: Trautmann, Gudrun

Letzte Ehre für die Helden

In jüngster Zeit habe es immer mehr Begräbnisse von Gefallenen gegeben. Das berichtet auch Viktoria Myronenko, die aus Poltawa stammt und von Dnipro mit zwei Kindern nach Singen geflohen ist. In den Telefonaten mit ihren Eltern erfährt sie von langen Gräberreihen mit Kriegsopfern. Auf dem Friedhof in Poltawa sind außerdem reihenweise Gräber für zukünftige Opfer ausgehoben. Carmen Scheide hat Bilder auf Facebook gepostet, die ihr zugespielt wurden. Darauf sind große Menschenmengen zu sehen, die ihren Helden die letzte Ehre erweisen. Es sind viele junge Männer oder Familienväter im besten Alter, die ihr Leben an der Front gelassen haben.

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Unterdessen hat sich der Heldenmythos abgenutzt. „Weil sie wissen, wie brutal der Krieg ist, kaufen sich einige von der Wehrpflicht frei“, sagt Carmen Scheide. „Die Korruption treibt Blüten.“ In der 10.000 Einwohner zählenden Partnerstadt Kobeljaki sind mittlerweile rund 3000 Binnenflüchtlinge angekommen. Die Stadt hat Suppenküchen für die Flüchtlinge eingerichtet.

Diese leben in Hallen und werden zum Teil von der Bevölkerung unterstützt. Verwundete werden im Krankenhaus versorgt, das mit Hilfe von Singener Spenden modernisiert wurde. Hier hat Waibel maßgeblich mitgewirkt. Er hatte in den 90er Jahren begonnen, die Infrastruktur in Kobeljaki zu verbessern: Krankenhaus, Feuerwehr, Sozialstationen. Alles Einrichtungen, die jetzt mehr denn je benötigt werden. Und auch jetzt schickt er Medikamente gegen Diabetes oder Epilepsie an bedürftige Personen. „Erstaunlich ist: Die Post kommt an“, wundert er sich.

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Bereits im März ging ein Hilfstransport mit Medikamenten von Singen nach Kobeljaki. Ein zweiter ist im Herbst geplant. „Zum Glück bekommen wir immer noch so viele Geldspenden von den Singenern“, sagt Carmen Scheide. Eine enge Verbindung bestehe zwischen dem Feuerwehrkommandanten Viktor Popuga in Kobeljaki und der Singener Feuerwehr mit Werksfeuerwehren. Die Abwicklung läuft über die Stadt Singen.

Preise für Lebensmittel sind drastisch gestiegen

Von ihren Eltern in Poltawa erfährt Viktoria Myronenko einiges über den Alltag in ihrer Heimat. Die Stadt und auch Kobeljaki sind von Angriffen weitgehend verschont geblieben. Gleich am ersten Kriegstag wurde aber der Militärflughafen in Poltawa angegriffen. Und ein zweiter Raketenbeschuss richtete sich gegen ein Nachbardorf. Sonst ist es ruhig geblieben. Allerdings sind die Preise für Lebensmittel drastisch gestiegen. Ab Mitternacht herrscht Ausgangssperre und die Fenster müssen verdunkelt werden. Die Landeswährung befindet sich im Sinkflug gegenüber dem Euro.

Auch dieses Bild wurde Carmen Scheide zugespielt: Ein Sarg mit Landesfahne bedeckt. Hier erweisen die Menschen in Kobeljaki einem ...
Auch dieses Bild wurde Carmen Scheide zugespielt: Ein Sarg mit Landesfahne bedeckt. Hier erweisen die Menschen in Kobeljaki einem Gefallenen die letzte Ehre. | Bild: Carmen Scheide (Quelle Facebook)

2019 war Carmen Scheide zuletzt in Kobeljaki. Sorgen bereiten der Historikerin die wachsende Korruption und auch der autoritäre Regierungsstil des ukrainischen Präsidenten Wolodimir Selenski. „Wenn die Ukraine in die Europäische Union will, muss sich das ändern“, ist sie überzeugt. Auch in den sozialen Netzwerken und Internetzeitungen werde der verordnete Patriotismus durchaus kritisch hinterfragt. Auch, dass sich der Präsident bisher wenig um die Menschen in den belagerten Gebieten gekümmert habe, werde kritisch gesehen. „Wir wissen seit 2014 nichts über die besetzten Gebiete“, klagt Carmen Scheide.

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Wilhelm Josef Waibel lauscht den Ausführungen der Historikerin. Dass seine Friedensbemühungen durch den russischen Angriffskrieg so jäh zunichte gemacht werden, betrübt ihn. Nun will er sich noch intensiver mit den Folgen des Krieges auseinandersetzen.