Julia Tutovskaya könnte eine normale junge Frau sein, die ihrem normalen Leben nachgeht. Denn eigentlich studiert sie am Institut für internationale Beziehungen an der Universität in Kiew. Doch seit dem 24. Februar befindet sich die Ukraine im Krieg. Und für Tutovskaya änderte sich alles – genau wie für ihre Landsleute. Am 24. Februar hätten ihre Eltern sie aus der Hauptstadt zu sich nach Hause, nach Kobeljaki geholt – in die ukrainische Partnerstadt Singens. Etwa 10.000 Menschen leben in dem Städtchen am Fluss Worskla, der in den Dnjepr mündet. Der Ort liegt im Osten der Ukraine im Verwaltungsbezirk Poltawa. Der Routenplaner weist eine Fahrstrecke von etwa 200 Kilometern von dort ins umkämpfte Charkiw aus. Nach Luhansk, das faktisch schon seit 2014 unter russischer Kontrolle ist, sind es demnach etwa 550 Kilometer.
Wie erlebt ein junger Mensch, der weit nach der Sowjetzeit zur Welt gekommen ist, den Krieg in der Ukraine? „Ich möchte eigentlich nicht sagen, dass es mir gut geht“, beginnt Tutovskaya das Gespräch, das per Videotelefonat stattfindet. Doch Freunde von ihr seien nach wie vor in Kiew in Bunkern oder U-Bahn-Stationen. Als ihre Eltern sie in der vergangenen Woche abgeholt hätten, habe sie die Geräusche von Bomben und Explosionen gehört.

Im Vergleich dazu, so scheint es aus ihren Erzählungen durch, läuft das Leben in der Kleinstadt noch vergleichsweise ruhig. Es gebe derzeit – noch – Lebensmittel, Strom und Medikamente in der Stadt, doch die Preise seien sehr hoch. Auf den Straßen sei es ruhig, sagt Tutovskaya. Seit Beginn des Krieges habe es vergleichsweise wenige Alarme gegeben, während in großen Städten mit Kampfhandlungen, etwa Charkiw oder Kiew, der Alarm alle zwei bis drei Stunden ausgelöst werde. Kobeljaki sei eine kleine Stadt ohne militärische Infrastruktur oder Industriekomplexe. Ihre Einschätzung lautet daher, dass die Stadt strategisch nicht besonders interessant sei.
Dennoch: Ihre Nacht sei noch unruhiger gewesen als sonst, erzählt Tutovskaya. In der Nacht habe es Meldungen über einen Brand im Atomkraftwerk Saporischschja gegeben, das sei sehr beängstigend gewesen. Der ukrainische Präsident Volodymyr Selenskyj sprach am Morgen von russischem Beschuss der Anlage. Überprüfen lassen sich solche Aussagen nur schwer, auch für die Menschen vor Ort wie Julia Tutovskaya. Die Singener Partnerstadt liegt laut Routenplaner etwa 200 Straßenkilometer von dem Atomkraftwerk entfernt. Doch sollte es dort zur Havarie kommen, wäre das eine Katastrophe für ganz Europa, sagt die junge Frau.
Die Stadt bereitet sich darauf vor, Verwundete und Flüchtlinge aufzunehmen
Die Menschen in der Stadt bereiten sich auf die Ankunft von Flüchtlingen und Verwundeten vor, erzählt sie. Die nächsten Kampfhandlungen gebe es nach ihrem Stand im 200 Kilometer entfernten Charkiw. Das Krankenhaus im etwa 70 Kilometer entfernten Poltawa, der Hauptstadt des Verwaltungsbezirks, habe schon Verwundete aufgenommen. Dass die Kämpfe noch nicht näher an ihre Heimatstadt herangerückt sind, dafür sei sie sehr dankbar, sagt die 19-Jährige im Videogespräch.

Doch gefasst ist man offenbar auf Schlimmeres, wie Fotos zeigen, die sie in der Stadt aufgenommen hat. Darauf sei das Krankenhaus zu sehen, erklärt sie, dessen Fenster mit Sandsäcken gegen Geschosse gesichert sind. Hat sie angesichts dieser Situation nie daran gedacht, die Stadt oder das Land zu verlassen, sich in Sicherheit zu bringen? Dafür gebe es zwar Gelegenheiten, meint sie. Doch wirklich darüber nachgedacht habe sie nie: „Hier kann ich nützlicher sein.“ Deswegen arbeite sie auch in einer Freiwilligengruppe mit. Die Gruppe habe zuletzt Tarnnetze hergestellt. Zuvor habe man Lebensmittel und Medikamente gesammelt, um in Poltawa bei der Versorgung von Verwundeten zu helfen. Auch Kleidungsstücke seien in ein Flüchtlingszentrum in Poltawa gegangen.
Und was hält ein Mensch in einer Stadt, die so nah am Krieg liegt, von Solidaritätskundgebungen im fernen Deutschland? Dafür sei sie sehr dankbar, sagt sie. Denn in ihren Augen sei es sehr wichtig zu sehen, dass viele Länder auf der Seite der Ukraine stehen. Gegen Ende des Gesprächs kommen Julia Tutovskaya, die ansonsten gefasst wirkt, dann doch noch die Tränen – nämlich wenn sie auf Kinder in umkämpften Gebieten zu sprechen kommt. Sie würden dort mitunter Menschen sterben sehen: „Das sollten Kinder nicht sehen und sie sollten auch nicht in Bunkern sitzen.“