Die Corona-Pandemie hat das Leben vieler Menschen überschattet – und es in einem Ausmaß verändert, wie es sich niemand Anfang des Jahres hätte vorstellen können. Achim Gowin, Chefarzt des Zentrums für Altersmedizin (Klinik für Geriatrie des Hegau-Bodensee-Klinikums) schildert hier, wie er das Jahr unter Corona-Bedingungen erlebt hat, was ihn betroffen machte und was ihm an 2020 trotzdem gefällt.

Das Jahr unter Corona

Anscheinend perlt die Angst einfach an ihnen ab. „Unsere älteren Patienten sind seit Corona wirklich geduldig. Sie ertragen alles, ohne zu murren“, sagt Achim Gowin. Angst vor Ansteckung oder Einsamkeit hätten sie nicht. Vielleicht sei das so, weil viele seiner Patienten – alle älter als 65 Jahre – schon ganz andere existenzielle Herausforderungen gemeistert hätten, mutmaßt der Chefarzt. „Sie kommen aus einer Zeit, wo es viele Entbehrungen gab. Wer damals in den Nachkriegsjahren Einschränkungen erlebt hat, kann das heute anders einordnen.“

Das könnte Sie auch interessieren

Vielleicht ertrügen seine Patienten es auch, weil sie sich nach Normalität sehnten. Weil sie keine Umstände machen wollten. Doch so etwas wie Normalität gibt es für Gowin und sein Team in Radolfzell schon lange nicht mehr. „Seit dem Frühjahr dreht sich bei uns alles nur noch um die Pandemie: Darum Corona-Patienten zu erkennen und zu behandeln“, sagt er. Und dadurch trete vieles, was die Geriatrie ausmache, in den Hintergrund. „Wir haben die Klinik als Entwicklungsprojekt aufgebaut und waren gerade an einem Punkt, wo es gut anlief. Da kam Corona und hat uns brutal ausgebremst.“

Die Entwicklungen, von denen der promovierte Mediziner spricht, sind interdisziplinärer Art. Denn: Die Geriatrie ist zwar eine eigene, aber keine abgeschlossene Abteilung am Hegau-Bodensee-Klinikum und erst recht keine, die viel Aufsehen errege. „Wir sind eine leise Sparte“, sagt Gowin. Eine, die ältere Menschen behandele, die an alterstypischen Krankheiten leiden, beispielsweise an Herz-Kreislauf-, und rheumatologischen Erkrankungen.

Doch auch Demenzpatienten würden dort umsorgt. Und zwar von Ärzten und Psychologen verschiedener Fachrichtungen. Ein Klinikchor und ein Literaturkreis sind ebenfalls an der Geriatrie angesiedelt. Eigentlich.

„Wofür wir stehen, kann momentan gar nicht gelebt werden“, sagt Achim Gowin.
„Wofür wir stehen, kann momentan gar nicht gelebt werden“, sagt Achim Gowin. | Bild: Hegau-Bodensee-Klinikum

Denn seit Corona liegen viele dieser interdisziplinären Projekte auf Eis. Ein Prozess, der Gowin betrübt stimmt. „Ich sehe, dass viele Patienten das stoisch ertragen. Aber ich sehe auch, dass sich ihr medizinischer Zustand seitdem verschlechtert hat.“

Eine Schlüsselrolle spielen in der Geriatrie normalerweise die Angehörigen. Sie seien therapeutisch mit eingebunden. Und sie seien so etwas wie feste Begleiter. „Wenn jemand dement ist oder die Hirnleistung nachlässt, kann ein Krankenhaus ein beängstigender Ort sein“, sagt Achim Gowin.

Das könnte Sie auch interessieren

Die Anwesenheit der Angehörigen helfe da Brücken zu bauen und die Atmosphäre aufzulockern. Doch seit Corona seien Treffen mit Angehörigen nur noch eingeschränkt möglich. Deshalb sagt der Chefarzt: „Wofür wir stehen, kann momentan gar nicht gelebt werden.“

Was gut war an 2020 und Mut machte:

Da muss Achim Gowin nicht lange nachdenken. „Das Jahr hat uns in der Geriatrie näher zusammengerückt.“ Denn: Als Angehörige kaum noch in die Klinik durften, hätte sein Team nicht lange gefackelt und trotz der vielen Belastungen Überstunden auf sich genommen, um die Patienten nicht alleine zu lassen.

„Manche Mitarbeiter waren wirklich aufopferungsvoll.“ Und gerade in Sterbemomenten sei es wichtig gewesen, dass jemand da sei. Wenn schon kein Angehöriger, dann ein Mitarbeiter des Teams.

Das könnte Sie auch interessieren

Eine Situation hat sich Gowin ins Gedächtnis gebrannt. „Wir hatten hier einen älteren Mann, der mit seiner Frau 60 Jahre zusammen war.“ Als er im Sterben lag, konnte seine Frau nicht bei ihm sein. Also habe sie ihm Briefe geschrieben. Abschiedsbriefe.

„Aber von der Qualität waren es Liebesbriefe“, sagt Gowin. Selbst im Moment des Sterbens habe er die Briefe noch bei sich gehabt. Ein Moment von ungeheurer Intensität und Intimität. Mitten in der Pandemie.

Was er am meisten vermisst

Kulturelle Veranstaltungen, sagt Achim Gowin. „Als Arzt braucht man als Ausgleich die Kultur.“ Er zum Beispiel liebe die Musik sehr. Besonders den Jazz. „Es hat mir immer gutgetan, nach langen Arbeitstagen, in den Jazzclub nach Singen zu gehen.“ Dieses Ausgleichselement fehle ihm im Augenblick ungemein.

Was Gowin aus der Corona-Zeit mitnimmt

Monatelang sei das Leben ruhiger und bescheidener gewesen. „Ich habe festgestellt, dass wir vielen Dingen hinterherjagen, die man gar nicht braucht“, sagt der Chefarzt. Müsse man etwa jedes Jahr verreisen und immerzu konsumieren? „Das Gefühl, bescheidener leben zu wollen und diese Getriebenheit zu hinterfragen, das wird bleiben“, da ist sich Achim Gowin sicher.