Susanne Karg, geborene Ruf, stellte sich in die vordere Reihe, als Landtagsabgeordneter Jürgen von Trotha (CDU) die Jugend bei seinem Besuch im besetzten Feuerwehrhaus zur Raison rufen wollte.
Doch sein Appell an die Jugend, „die demokratischen Spielregeln und die rechtsstaatliche Ordnung zu achten“ prallte an der Überzeugung der Jugendlichen und jungen Erwachsenen ab. Zu lange hatten sie schon für einen offenen Treffpunkt gekämpft, zu fad empfanden sie das Angebot Trothas, doch mit der Stadtverwaltung eine Lösung im Haus der Jugend zu finden.
Besetzung war nicht wirklich geplant gewesen
Die Besetzung und was im Feuerwehrgerätehaus im Juli 1980 passierte, war dagegen alles andere als fad. So hat es Susanne Karg in Erinnerung: „Genaugenommen war es ja zuerst keine Besetzung. Wir trugen das Sofa vor das Gerätehaus und es trafen sich dort immer mehr Jugendliche.“
Eines Tages habe es angefangen zu regnen. „Und dann machten wir die Türe einfach auf und gingen rein.“ Die Feuerwehr hatte das Spritzenhaus längst verlassen. „Es begann eine wunderbare, spannende Entwicklung, die keiner geplant hatte.“
Es gab genügend Platz für alle, auch viele Mädchen hätten sich dort eingefunden. „Oben links war das Matratzenlager.“ Es habe eine Hausordnung gebraucht, sagt Susanne Karg, da wurde vieles geregelt. Auch das: „Da wird geschlafen, da nicht.“ Die Jungs malten Plakate, die Mädchen bedruckten T-Shirts mit der Aufschrift „Jugendzentrum Feuerwehrgerätehaus„.
Jugendlichen nutzen ihre Kontakte und organisieren Hilfe
Susanne Karg hatte Kontakte zum Jugendzentrum Schlupfwinkel in Konstanz und zum Szene-Lokal Gems in Arlen. Die Mitstreiter lieferten Klopapier, Besen, Eimer und moralische Unterstützung. „Sie halfen uns in jeder brenzligen Situation.“ Flugblätter wurden gedruckt, ein kreatives Programm mit Theater und Konzerten auf die Beine gestellt, die Wände gestrichen.

Die Kunde vom besetzten Feuerwehrhaus verbreitete sich schnell zu Mitstreiterinnen der Jugendzentrumsinitiative, die nicht mehr in Radolfzell wohnten: Ute Kleeberg studierte in Tübingen Sonderpädagogik, Annette Neitsch machte in Freiburg ihre Ausbildung zur Erzieherin. Tageweise „besetzten“ sie das Haus aus Überzeugung mit.

Annette Neitsch beobachtete im Feuerwehrhaus, was sie als Erfahrung über die Jugend in der Stadt verinnerlicht hatte: „Da waren viele Gestalter, die unheimlich kreativ waren.“ Die Besetzung des Feuerwehrhauses sei für viele ein Ventil gewesen. Über all die Jahre hätte man der nicht organisierten Jugend einen Raum verwehrt. „So war das für die Jugendlichen: Bist du in keinem Verein, hast du keinen Raum.“
Das bestätigt Ute Kleeberg. Doch sie sah die Besetzung des Feuerwehrgerätehauses skeptisch, sie witterte eine Falle der etablierten Politik: „Man musste mit dem Argument rechnen, die bekommen ein Jugendzentrum in Selbstverwaltung nicht organisiert.“ Weil die Besetzung illegal gewesen sei, weil man wusste, das Feuerwehrhaus soll abgerissen werden.

Und weil die Interessen im Rathaus ganz anders lagen und von OB Günter Neurohr machtpolitisch geschickt ausgespielt wurden. Mit der getürkten Aussage, die Staatsanwaltschaft habe behauptet, das Feuerwehrgerätehaus müsse jetzt oder nie geräumt werden, zog er den zuvor kompromissbereiten Gemeinderat auf seine Seite.
Auf der Demo nach der Räumung und dem sofortigem Abriss des denkmalgeschützten Feuerwehrgerätehauses waren alle drei dabei: „Ich bin immer aus Überzeugung auf jede Demo gegangen“, sagt Ute Kleeberg. Annette Neitsch hat an jenem 31. Juli 1980 „noch nie so viele Polizisten gesehen“ und Susanne Karg erinnert sich an ein „ohrenbetäubendes Pfeifkonzert vor Ruinen“.
Ganz schön sauer auf die SPD
Annette Neitsch hat noch eine Original-Dokumentation der engagierten Jugendlichen über die Besetzung des Feuerwehrgerätehauses im Juli 1980 in Radolfzell. Hier einige Auszüge aus dem 38 Seiten starken Werk:
- Zur Rechtslageheißt es aus der Feder der Initiative: „Die Besetzung des Feuerwehrhauses war legal, denn die Jugendlichen versammelten sich nicht, um das Haus zu beschädigen, sondern um es zu beschützen.“
- Zur Sachbeschädigung: „Außerdem zeichnet Herr Neurohr als Verwaltungschef für die Sachbeschädigung am Feuerwehrgerätehaus verantwortlich. 85 Jugendliche können bezeugen, dass ein Arbeiter des Bauhofs mutwillig eine der denkmalgeschützten Tore von innen mit einer Spitzhacke zertrümmerte.“
- Zum Verhalten der Radolfzeller SPD: „Auf den Gipfel trieben es die Gemeinderäte der SPD in der fragwürdigen Gemeinderatssitzung am 29. Juli 1980, als sie gemeinsam versuchten, die CDU rechts zu überholen, indem sie für die Räumung des Feuerwehrhauses stimmten und somit halfen, die Jugendzentrumsbewegung totzuschlagen. Jetzt darf sich die SPD nicht wundern, wenn die Jugendlichen auf diese Partei pfeifen, die, wenn es darauf ankommt, den Schwanz einzieht und ihnen in den Rücken fällt.“
- Zur Hilfe von Nachbarin Else Schlegel: „Ein ganz dickes Dankeschön an Frau Schlegel, die trotz Anfeindungen immer zu uns gehalten hat.“
- Zur Räumung des Feuerwehrhauses: „In einer Stunde wurden alle meine guten Erfahrungen und Erlebnisse, die ich in diesem Haus gesammelt habe, zunichte gemacht. 18 Tage habe ich das erleben, erfahren können, wovon wir zuvor nur reden, träumen konnten: Selbstbestimmung, Selbstverwirklichung, Kreativität, Verständnis, unbeschreibliche Wärme unter uns.“