Im Sommer 1980 war Andreas Nitschke ein gutes Stück von Radolfzell entfernt. In Bielefeld fuhr er Zeitungen aus und wartete auf eine Aufnahme im Oberstufen-Kolleg an der Universität Bielefeld, einer Versuchsschule in Nordrhein-Westfalen.

Reformpädagoge Hartmut von Hentig hatte das Kolleg gegründet, „viele wollten dort hin, ich auch“, sagt Nitschke. Um das Abitur zu machen. Der Ruf des Oberstufenkollegs war fortschrittlich, „nicht so spießig wie ein herkömmliches Gymnasium“. Doch die Aussichten auf einen Platz waren gering, aber warten auf die Entscheidung konnte er auch in Bielefeld.

Das Feuerwehrhaus ist Thema in der linken „taz„

Was machten junge Leute in Bielefeld, wenn sie mit den überkommenen Konventionen haderten? Sie lasen die linksalternative „Tageszeitung“, kurz taz. Andreas Nitschke staunte nicht schlecht, als am 25. Juli 1980 auf Seite vier der deutschlandweiten Ausgabe ein großer Bericht über das besetzte Feuerwehrgerätehaus in seiner Heimatstadt Radolfzell stand. Die Schlagzeile ging mit einem Zitat auf das Ultimatum der Stadt und die angedrohte Räumung ein: „Lasst die Knüppel zu Hause – wir haben auch keine.“

Andreas Nitschke war wie elektrisiert: „Das fand ich toll, dass die Radolfzeller es in die taz geschafft haben, das war damals eine richtige Szene-Zeitung.“ Oder: Radolfzell hatte den Geruch der Provinz abgestreift, es wurde in einem Atemzug mit Berlin, Frankfurt, Freiburg, Zürich genannt.

Versammlung vor dem besetzten Feuerwehrhaus: Die Fassade und das Dach waren denkmalgeschützt – das hinderte die Stadt nicht am Abriss.
Versammlung vor dem besetzten Feuerwehrhaus: Die Fassade und das Dach waren denkmalgeschützt – das hinderte die Stadt nicht am Abriss. | Bild: SK-Archiv

Für ihn war klar, dass musste er selbst anschauen: „Ich fand das spannend.“ Zwei Jahre zuvor sei er noch Jugendzentrumsinitiative aktiv gewesen und habe zusammen mit Matthias Schenk im Lehrlings- und Schülertheater gespielt. „Also bin ich in mein Bussle gestiegen und runtergefahren.“

Rund 650 Kilometer und einen Tag später kam Andreas Nitschke an seinem 21. Geburtstag in Radolfzell auf dem Untertorplatz an. Von den letzten fünf Tagen im besetzten Feuerwehrhaus hat er keine durchgehende Erinnerung mehr. „Da hat es nach 40 Jahren ein bisschen die Festplatte gelöscht.“

An was er sich noch erinnern kann, „sind starke Emotionen“. Von außen sei ein Stimmungsumschwung spürbar gewesen. Hieß es zu Beginn in der Bevölkerung über das Feuerwehrgerätehaus „das kann man doch nicht abreißen“, gab es nun Gerüchte über Drogenkonsum und freien Sex.

Andreas Nitschke 40 Jahre später auf dem Untertorplatz.
Andreas Nitschke 40 Jahre später auf dem Untertorplatz. | Bild: Becker, Georg

Nitschke grinst: „Orgien haben wir keine gefeiert.“ So lauten seine Erfahrungen. Dass „ein paar Freaks“ in der Nacht auf dem Hof gekifft hätten, habe zur offenen Auseinandersetzung und der Zurechtweisung „seid Ihr wahnsinnig“ geführt. „Wenn die Aktion einen Sinn haben sollte, dann durften wir nicht in die Ecke der Drogensucht abgedrängt werden.“

Natürlich war ein besetztes Haus, das seine Strukturen noch suchte, für unterschiedliche Strömungen zugänglich. Das sollte ein offenes Jugendhaus nach der Philosophie der Jugendzentrumsinitiativen auch leisten. Doch Andreas Nitschke hält aus seinen Erinnerungen fest: „Es war kein Dealerplatz. Ich habe nicht erlebt, dass öffentlich gekifft worden ist.“

Ein Abendessen hätte alles ändern können

Über eines könnte sich Andreas Nitschke noch heute ärgern. Dass er am 30. Juli nicht bei seinen Eltern zum Abendessen war. Sein Vater Peter Nitschke hatte damals in Radolfzell ein Bauunternehmen. Wenn die Stadt einen Bagger brauchte, rief sie bei Peter Nitschke an.

Das habe OB Günter Neurohr an diesem Abend gemacht und den Bagger für einen Abriss am nächsten Morgen bestellt. „Ich war in dieser letzten Nacht im Feuerwehrgerätehaus„, berichtet Nitschke. „Hätte ich den Anruf wegen des Baggers rechtzeitig mitbekommen, hätten wir noch viel mehr Leute mobiliseren können.“ Der Bagger war der Hinweis auf den bevorstehenden Abbruch.

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Zusammen mit 40, 50 anderen sei er am Morgen des 31. Juli von vier Polizisten aus dem Feuerwehrgerätehaus getragen worden. Da ging es bis auf zwei, drei Ausnahmen friedlich zu. „Wir haben damit gerechnet, dass geräumt wird, aber nicht, dass gleich abgerissen wird.“

Doch der OB nutzte die Gunst der Stunde und ließ das Haus mit denkmalgeschützer Fassade und Dach gleich einreißen. Diese eiskalte Ausübung der Macht entfachte den Zorn der jugendlichen Besetzer. In spontanen Demonstrationen durch die Stadt entluden sich Wut und Ohnmacht.

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„Da gingen die Wogen hoch“, erinnert sich Andreas Nitschke, „es ging heiß her in der Stadt“. Die Idee, dort im alten Feuerwehrgerätehaus ein Jugendzentrum zu entwickeln, hält er nach wie vor für richtig. Als heutiger Aktiver im Verein Zeller Kultur ist Nitschke einem im weitesten Sinne ähnlichen Projekt für eine andere Generation verpflichtet.

Er betrachtet die Besetzung aus heutiger Sicht als „ein letztes Aufbegehren der Jugend“. Bis heute sei in Radolfzell kein richtiges Angebot da. „Denn so ein Jugend- oder soziokulturelles Zentrum gehört ins Zentrum der Stadt.“

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Das Abschieben an die Peripherie sei keine Alternative, „junge Mädchen gehen da nicht hin“. Seiner Ansicht bräuchte es eine Veränderung im Bewusstsein der Stadt und welche Entwicklung sie nehmen soll: „Dass es andere Gestaltungsräume geben muss, die nicht von der Wirtschaftlichkeit definiert sind.“

Andreas Nitschke hat nicht in Bielefeld studiert, er hat Schreiner gelernt. Idealist ist er geblieben.

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Die Eltern haben Aktion geduldet

Für ihre „Aufarbeitung der Besetzung des Feuerwehrgerätehauses Radolfzell“ haben die Schülerinnen Nicole Ehnert und Mirjam Kunz im Jahr 2010 zahlreiche Beteiligte und Zeitzeugen befragt. Die Auswertung gibt einen Einblick in die Stimmungslage:

  • Was die Eltern sagten: Nach der Erhebung haben 90 Prozent der Jugendlichen mit ihren Eltern über die Besetzung gesprochen. 63 Prozent der Eltern hätten die Besetzung geduldet, 29 Prozent hätten die Aktion sogar aus verschiedenen Gründen unterstützt. Einige Eltern betrachteten die Hausbesetzung als „wichtige Erfahrung im Umgang mit der Demokratie“.
  • Was die Besetzer ihren Kindern sagen würden: Nach Angaben der Autorinnen würden alle damaligen Jugendlichen im Rollentausch ihren Kindern die Beteiligung an ähnlichen Aktionen erlauben. Vorausgesetzt, für die Aktion läge ein sinnvoller Grund vor, sie müsste gewaltfrei sein und ohne Gefahren für die Kinder ablaufen.