Eine Lehrkraft, die spricht. Schüler, die lauschen. Tafelanschriebe und Noten für geschriebene Arbeiten – so sieht der klassische Alltag an Schulen aus. Doch nicht überall ist das so. An Freien Schulen wird oftmals ein anderes Konzept umgesetzt. So auch in der Unterseeschule in Radolfzell, die erst kürzlich das Richtfest zum neuen Anbau gefeiert hat. Dort ist so einiges anders als in anderen Schulen in der Region.

Mehr Betreuer für weniger Kinder

„Was kennzeichnend ist, ist dass Kindergarten und Schule unter einem Dach sind“, erklärt Vorstandsmitglied Mario Motzkuhn. Denn zur Einrichtung in der Leonard-Oesterle-Straße gehört nicht nur die Grund- und Werkrealschule, sondern auch ein Kindergarten. Diese Nähe sorge für einen fließenden Übergang, so Motzkuhn. Denn Schule und Kindergarten teilen sich ein Konzept. „Es unterscheidet sich nur darin, dass es andere Altersgruppen und andere Entwicklungsbedürfnisse gibt“, sagt Kindergartenleiterin Hannah Kimpel.

Mario Motzkuhn (Vorstandsmitglied), Hannah Kimpel (Kindergartenleiterin) und Hardy Gurack (Schulleiter) von der Unterseeschule und dem ...
Mario Motzkuhn (Vorstandsmitglied), Hannah Kimpel (Kindergartenleiterin) und Hardy Gurack (Schulleiter) von der Unterseeschule und dem Unterseekindergarten in Radolfzell. | Bild: Marinovic, Laura

Kern des Konzepts sei, dass die Schüler und Kindergartenkinder „aus sich heraus lernen“, so Kimpel. Aufgabe der Mitarbeiter sei es, die Begeisterung fürs Lernen zu wecken. Dazu gehöre auch, dass genau darauf geachtet werden soll, was sie brauchen. Für die Betreuung zuständig sind laut Hannah Kimpel im Unterseekindergarten für etwa 25 Kinder fast immer drei Betreuer pro Tag. In der Unterseeschule sind es laut Leiter Hardy Gurack 9,7 Lehrstellen auf 83 Schüler.

Kinder entscheiden selbst über ihren Tag

Aber nicht nur der Betreuungsschlüssel unterscheidet sich von klassischen Einrichtungen. Noten gibt es nicht. „Und es gibt so gut wie keinen Frontalunterricht“, nennt Hardy Gurack eine weitere Besonderheit. Stattdessen sollen die Kinder selbst entscheiden, womit sie sich beschäftigen.

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Dafür sei der Tag zweigeteilt. In der ersten Hälfte sollen die Kinder selbstständig mit Materialien wie Büchern, Arbeitsblättern, Montessor- und Sinnes-Material arbeiten können. „Da geht es darum, eine Aufgabe zu finden, die sie fordert und fördert“, sagt der Schulleiter. Beispielsweise könnten sie anhand von Spielgeld zählen lernen.

Wechsel nicht nur am Anfang des Schuljahres

Im zweiten Teil des Tages werde vor allem der Außenbereich der Einrichtung genutzt, dort werden etwa gesuchte Äpfel gekocht oder Projekte umgesetzt, die die Schüler sich selbst aussuchen können. Unter anderem könnten sie Chemieexperimente erleben. „Dabei geht es darum, herauszufinden, was sie begeistert“, so Gurack.

Aufgeteilt seien die Schüler in vier Stufen, in denen jeweils mehrere Klassenstufen vereint werden. „Da machen wir die Trennung nicht scharf“, erklärt der Schulleiter. Es gehe nicht nur ums Alter, auch wenn dieses in den Stufen ungefähr gleich sei. Ob ein Schüler in die nächste Stufe wechselt, hänge damit zusammen, ob er kognitiv, emotional und sozial bereit sei.

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Auch in diesem Bereich gibt es an der Unterseeschule eine Besonderheit: „Man kann schon halbjährlich wechseln.“ Das sei beim Übergang vom Kindergarten in die Schule ebenso. Denn manche Kinder seien eben schon vor Ende eines Schuljahres bereit für eine neue Stufe.

Kann das funktionieren?

Aber kann ein so freies Konzept funktionieren? Die Verantwortlichen sind davon überzeugt: Wenn das Umfeld stimmt, sind Kinder gerne von sich aus bereit, zu lernen, sagt Mario Motzkuhn. Wie Hardy Gurack erklärt, motiviere sich ein Großteil der Schüler auch gegenseitig – denn sie seien ja bestrebt, mit Gleichaltrigen in die nächste Stufe zu wechseln.

Stühle und Tische gibt es an der Unterseeschule aber trotzdem – zumindest in den höheren Klassen.
Stühle und Tische gibt es an der Unterseeschule aber trotzdem – zumindest in den höheren Klassen. | Bild: Marinovic, Laura

Außerdem seien die Lehrkräfte dazu da, die Kinder in das Lernmaterial einzuführen und dafür zu sorgen, dass sie einzelne Bereiche wie Mathe nicht vernachlässigen. Schließlich müsse die Unterseeschule auch ihren Bildungsauftrag erfüllen. „Die Schüler picken sich nicht nur die Rosinen raus“, betont Motzkuhn. „Sie werden begleitet.“

Ganz ohne Frontalunterricht geht es dann doch nicht

Um dafür zu sorgen, dass wichtige Themen wie zum Beispiel geschichtliche Ereignisse auf jeden Fall von allen Schüler bearbeitet werden, geben die Lehrkräfte zu den Grundkenntnisse Informationen. „Die wesentlichen Bildungsplanthemen sind abgedeckt“, betont Hardy Gurack.

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Und ganz ohne Frontalunterricht gehe es auch an der Unterseeschule nicht. In der Prüfungsphase, bevor die Schüler an der Teggingerschule in Radolfzell ihre Werkrealschulprüfung ablegen, gebe es doch Unterrichtseinheiten. Aber die Schüler sollen selbst entscheiden, wann sie die Prüfung schreiben. Das führe auch dazu, dass sie motiviert sind, dafür zu lernen und gegebenenfalls Themenbereiche nachzuholen, die sie bislang womöglich vernachlässigt haben.

Wie Hardy Gurack berichtet, setzen viele Abschlussschüler ihre Ausbildung danach an Gymnasien fort – durch ihre innere Motivation, zu lernen, gelingt das laut Mario Motzkuhn dort trotz des unterschiedlichen Konzepts. Gleiches gelte für Ausbildungen oder Studium. Gerade bei einem Fernstudium sei es von Vorteil, wenn die ehemaligen Untersee-Schüler sich Wissen selbst erarbeiten können. Auch für Unternehmen seien Angestellte mit Eigenantrieb wertvoll.

Bei Pädagogen ist das Konzept beliebt

Die Verantwortlichen sehen aber noch andere Vorteile in ihrem ungewöhnlichen Konzept. So berichtet Hannah Kimpel, dass sich bislang genügend Personal für den Kindergarten bewirbt. „Es gibt viele, die Lust haben, anders zu arbeiten“, sagt sie.

In der Schule ist derzeit eine Stelle ausgeschrieben, so Hardy Gurack. „Wir haben eine relativ hohe Fluktuation durch Schwangerschaft, Elternzeit und Krankheit“, erklärt er. Aber auch ihn erreichen zuverlässig Bewerbungen. Für Lehrkräfte sei es attraktiv, mit einer anderen Dynamik und weniger Kindern zu arbeiten. Ein Manko gebe es aber: „Wir können keine Verbeamtung anbieten.“

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