Mit 66 Jahren denken die meisten Menschen eher über die Rente nach. Chefarzt Achim Gowin denkt viel lieber über Rentner nach und wie er ihnen helfen kann. Der Chefarzt der Geriatrie am Gesundheitsverbund Landkreis Konstanz hat im aktuellen Ratgeber-Magazin Focus Gesundheit für die Bereiche Akutgeriatrie und Demenzen den Status Top-Mediziner 2022 verliehen bekommen.
Ans Aufhören möchte der Mediziner noch lange nicht denken, vielmehr möchte er seine Fachabteilung, die Geriatrie am Radolfzeller Krankenhaus, wieder aufbauen und auf den Stand bringen, den diese vor der Corona-Pandemie hatte.
Nur noch die Hälfte der Betten steht zur Verfügung
Von den ehemals rund 70 Betten, die der Geriatrie zur Verfügung standen, ist nach mehr als zwei Jahren Pandemie nur noch die Hälfte übrig. Dies habe mehrere Ursachen, so Gowin. Zum einen fehle es an Personal, der Medizinmarkt sei nach Corona schlicht erschöpft. Einige Mitarbeiter seiner Abteilung litten noch immer unter den Folgen ihrer eigenen Corona-Infektion und seien nicht wieder voll einsatzfähig.
Hinzu käme es, dass der Gesundheitsverbund im Radolfzeller Krankenhaus zwei Abteilungen wegen baulichen Mängeln geschlossen habe. „Wir haben aktuell Wartezeiten von mehreren Wochen, wenn es kein akuter Notfall ist“, fasst Achim Gowin zusammen.
Er und sein Team seien aber hochmotiviert, wieder dort anzuschließen, wo die Geriatrie durch das Corona-Virus unterbrochen wurde. Und Arbeit gebe es aktuell mehr denn je. Die Pandemie habe vor allem bei älteren Menschen deutliche Spuren hinterlassen, erklärt der Chefarzt. Am schlimmsten sei die Einsamkeit, die viele Seniorinnen und Senioren in diesen Monaten erfahren hätten.
Einsamkeit fördert den Fortschritt von Demenz
Wochenlang sei niemand mehr zu Besuch gekommen, dies habe dramatische Auswirkungen auf die Gesamtverfassung der Menschen gehabt. „Einsamkeit führt zu Depressionen und Depressionen führen zu Demenz“, versucht Gowin vereinfacht zu erklären. Einige seiner Patienten hätten wegen der erzwungenen Isolation deutlich schneller geistig abgebaut, als es zu erwarten gewesen sei.
Auch verpasste Arztbesuche und Vorsorge-Termine würden sich jetzt gesundheitlich zeigen. Hier betont der Altersmediziner vor allem die Verabreichung von Medikamenten. Bei jedem Medikament sollte regelmäßig kontrolliert werden, ob es auch noch notwendig sei. Aber ohne regelmäßige Arzttermine hätten das viele schleifen lassen.
Rund 30 Prozent aller Patienten in der Geriatrie seien erst dort vorstellig geworden, weil es Nebenwirkungen mit den Medikamenten gab, und sie sich unter Einfluss der Medikamente verletzt hatten oder andere Beschwerden in diesem Zusammenhang hatten, so Gowin. „Schwindel durch bestimmte Tabletten führen zu Stürzen, andere führen zur Verwirrung und Dehydration“, erklärt der Chefarzt.
Patienten kommen extra von weit her
Achim Gowin kam 2012 nach Radolfzell und baute die Geriatrie als eine der ersten Abteilungen dieser Art im Südwesten auf. Auch war sie lange Zeit die größte Abteilung und zog Patienten aus dem kompletten südlichen Baden-Württemberg an. Dabei ist für Gowin Effizienz nicht alles. Den Satz „Ich kann leider nichts mehr für Sie tun“ sei ihm noch nie über die Lippen gekommen. „Man kann immer etwas tun, und wenn man einfach nur da ist“, sagt Achim Gowin. Der Bereich Palliativ-Betreuung sei aus diesem Grund wichtig für die Geriatrie.
Eine letzte Hoffnung für Schwerkranke
In der Region sei seine Abteilung vor allem für seine offensive Altersmedizin bekannt, erklärt er. Das heißt: Sie nehmen auch sehr alte, sehr kranke Menschen auf, die an anderer Stelle vielleicht als hoffnungsloser Fall abgewiesen wären. „Wir haben ein sehr engagiertes Team, auch das ist bekannt“, betont Gowin.
Die angekündigte Schließung des Radolfzeller Krankenhauses habe auch in seiner Abteilung für Unruhe gesorgt. Und auch für Kündigungen. Doch gibt sich der Altersmediziner kämpferisch. „Ich bin mir sicher, wenn wir die Arbeit hier wieder hochfahren, können wir auch neues Personal für uns gewinnen“, sagt er. Einem Umzug in eine andere Klinik steht er offen gegenüber, doch müsse das Angebot glaubwürdig sein, wie es Gowin formuliert.
Geriatrie wartet auf ihre Wiederbelebung
Aktuell sehe er für seine Geriatrie nirgendwo ausreichend Platz. Außerdem sei der Standort im vergleichbar kleinen Radolfzeller Klinikum für ältere Menschen besser als eine große Einrichtung. Ein Wachstum seiner Abteilung könne er aber garantieren. „Mit der Geriatrie wird man sicher nicht reich, aber wegen uns ist der Klinikverbund sicher nicht in den Miesen“, fasst der Chefarzt zusammen.
Achim Gowin würde gerne wieder richtig durchstarten, gerne am Standort Radolfzell. Doch dies ist seit dem Bekanntwerden des Gutachtens des Klinikverbundes nur eine Option bis zur Schließung des Radolfzeller Krankenhauses. Wenn es in einigen Jahren, wie vom Gutachten empfohlen, ein neues Zentralklinikum im Landkreis gibt, würde er dorthin mit seiner Abteilung umziehen. Für seine multimorbiden Patienten, die mit Mehrfach-Erkrankungen, sei es die beste Lösung, in ein fertiges neues Gebäude zu ziehen.