Die Unterstorstraße in Radolfzell zählt ohne Frage zu den schöneren Straßen der Stadt. Hier reihen sich große Stadthäuser, gebaut Anfang des 20. Jahrhunderts. Seit mehr als 100 Jahren wird in diesen Häusern gelebt, geliebt, gestritten, gestorben und geboren.

In den Hausnummern 18 und 20 wohnen heute zwei Frauen Tür an Tür, die eine gemeinsame Erfahrung teilen. Heidrun Ullmann hat seit zehn Jahren dort ihre Hebammen-Praxis und ist spezialisiert auf Hausgeburten. Ihre Nachbarin Melitta Gielen ist 87 Jahre alt und hat all ihre fünf Kinder zwischen 1959 und 1964 zu Hause zur Welt gebracht.

Hausarzt hat die Hausgeburt 1959 selbst vorgeschlagen

Zu dieser Zeit ging ein Großteil der Frauen ins Krankenhaus. Das galt damals als sichererer als die Kinder in den eigenen vier Wänden zu bekommen. „Mein Arzt Dr. Förster hatte mir für mein erstes Kind eine Hausgeburt vorgeschlagen“, erinnert sich Melitta Giebel.

Da ihre Mutter gelernte Wochenbettpflegerin war und sie sich nicht sonderlich viel mit dem Thema beschäftigen wollte, stimmte sie zu. „Ich habe anfänglich nicht viel mit einer Geburt anfangen können und mich auch nicht dafür interessiert“, sagt die 87-Jährige. Sie vertraute da voll und ganz ihrem Arzt und ihrer Mutter. Die richtige Entscheidung, wie sich später herausstellen sollte.

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Immer dabei bei einer Hausgeburt in den 1950er-Jahren: Schwester Elsa Hafner. Eine evangelische Ordensschwester, die als Hebamme mit dem Fahrrad in der Stadt unterwegs war. Melitta Gielen hat die Geburtshelferin besonders gut in Erinnerung behalten.

„Sie war eine schlanke, nicht besonders große Frau in ihren Siebzigern, die damals schon Probleme mit der Sehkraft hatte. Aber sie war so einfühlsam und hat sich sehr gekümmert“ sagt Melitta Gielen. Schwester Elsa Hafner habe halb Radolfzell auf die Welt geholfen, sagt die rüstige Seniorin lachend.

Hausgeburt als positive Erinnerung

Melitta Gielens erstes Kind ließ sich sehr viel Zeit. Ihr Mann lief zu einer öffentlichen Telefonzelle, um den Doktor zu rufen. Ein eigenes Telefon hatte zu dieser Zeit kaum jemand. Dr. Förster und Schwester Elsa ließen der damals 26-jährigen Erstgebärenden viel Zeit, woran sich Gielen noch immer sehr positiv erinnert. Für sie stand dann fest: Sie möchte alle ihre Kinder – geplant waren ursprünglich zwölf an der Zahl – zu Hause bekommen.

Beim zweiten Kind trafen Gielens Ehemann und Schwester Elsa eine besonders pfiffige Absprache, wie die Hebamme gerufen werden sollte. Sie band sich nachts eine Schnur um das Bein und ließ ihn aus dem Fenster ihrer Wohnung in der Seestraße hängen. Wenn die Wehen einsetzen, dann solle er einfach daran ziehen und die Ordensschwester wäre zur Stelle. „Sie hat wirklich alles gegeben“, sagt Melitta Gielen heute noch anerkennend.

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Das dritte Kind wollte an Heiligabend das Licht der Welt erblicken. Familie Gielen saß beim gemeinsamen Singen am Klavier zusammen, als die Wehen einsetzten. In fünf Jahren hat Melitta Gielen fünf gesunde Kinder, drei Jungen und zwei Mädchen, zu Hause bekommen.

Diese Tradition führt Hebamme Heidrun Ullmann heute fort. Vor allem durch die in Krankenhäusern wieder geltenden höheren Auflagen und Einschränkungen seien bei ihr die Anfragen auf eine Hausgeburt etwas angestiegen. Der Partner dürfe beispielsweise nur in der letzten Phase der Geburt dabei sein. Davor sei die Frau allein mit dem Klinikpersonal.

Heute sind Hausgeburten umstritten und werden selten durchgeführt

Ullmann und ihre beiden Hausgeburts-Kolleginnen Frederike Bohl und Rahel Stuhlmann haben auch ohne Pandemie alle Hände voll zu tun. Heutzutage gebe es keine Geburtshelfer mehr, die zu einer Hausgeburt gerufen werden können, so Ullmann. Die Haftpflichtprämien seien schlicht unerschwinglich. Schon allein die Empfehlung zu einer Hausgeburt könne rechtliche Folgen für den Arzt haben.

Melitta Gielen findet das schade: „Ich habe mich zu keiner Zeit unsicher gefühlt und damals waren die hygienischen Bedingungen völlig anders als heute. Wir hatten damals zum Beispiel kein Badezimmer im Haus.“

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Hebamme Heidrun Ullmann erklärt, dass sie nur gesunde Frauen, die eine risikofreie Schwangerschaft durchlaufen, für eine Hausgeburt annimmt. Sollte es während der Geburt zu Komplikationen kommen, werde die Schwangere in ein Krankenhaus verlegt. Melitta Gielen ist mittlerweile achtfache Oma und siebenfache Uroma. Eines ihrer Urenkelkinder ist ebenfalls in dem Haus auf die Welt gekommen.