Der wahr gewordene Albtraum begann für die Krankenpflegerin in den frühen Morgenstunden. Gegen Ende einer sehr ruhigen Nachtschicht auf der Notfall-Station im Zentrum für Psychiatrie (ZfP) wollte sie anfangen, die Medikamente für die Morgenroutine herzurichten. Da stand der 38-jährige Angeklagte plötzlich in der Tür des Dienstzimmers und verlangte einen Kaffee. Als sie nicht schnell genug reagierte, schlug er unvermittelt zu.
Der Angeklagte gilt als schuldunfähig
Wegen gefährlicher Körperverletzung an zwei Krankenpflegerinnen des ZfP und dem Angriff auf einen Polizisten hat sich der Radolfzeller nun vor der großen Strafkammer dem Konstanzer Landgerichts verantworten müssen. Doch eine Bestrafung dieser Taten stand nicht im Raum. Denn der Angeklagte hat neben einem langen Vorstrafenregister auch eine sehr aussagekräftige Krankenakte: Er leidet an paranoider Schizophrenie und gilt somit als schuldunfähig. Betroffene leiden an Wahnvorstellungen, Verfolgungswahn oder hören Stimmen.
Diskutiert wurde vor allem die Frage, ob der 38-Jährige dauerhaft in einem psychiatrischen Krankenhaus untergebracht werden muss. Das Gericht lehnte diese Forderung der Staatsanwaltschaft allerdings ab. Der Grund: Der Mann befindet sich bereits seit mehr als zwei Jahren im ZfP. Die Anweisung einer lebenslangen Unterbringung in einer geschlossenen Einrichtung sei nicht verhältnismäßig, lautet das Urteil.
Mit den richtigen Medikamenten ist er ein anderer Mensch
Seit 2001 soll der 38-Jährige die Diagnose paranoider Schizophrenie haben und laut dem Gutachter, einem Facharzt für forensische Psychiatrie, sei er mit der korrekten Medikamenten-Dosis „erstaunlich leistungsfähig“. Über Jahre habe er ein normales Leben geführt, eine Ausbildung absolviert und trotz der schweren psychischen Erkrankung eine Arbeitsstelle gefunden. Ohne Medikamente verfalle er in Wahnvorstellungen und dies führe zu brutaler Gewalt.
Die Vorfälle, die zu seiner aktuellen Einlieferung führten, fanden im März 2019 statt. In einem Radolfzeller Wohngebiet soll er beim Diebstahl eines Fahrrads beobachtet worden sein. Als er erwischt wurde, soll er einen Herzanfall simuliert haben, wie Zeugen berichten. Nach dem Eintreffen der Polizei habe er erneut einen Schwächeanfall vorgespielt, einem Polizisten, der ihn stützen wollte, versuchte er anschließend die Pistole aus dem Holster zu entreißen. Ein nachhaltiger Schock für den erfahrenen Beamten. „Ich habe nur gedacht, wenn er die Waffe bekommt, bin ich tot“, schildert der Polizist seine Gedanken.
Im ZfP wurde er nur ruhig gestellt und man hat ihn schlafen lassen
Doch der 38-Jährige, der tief in seinen Wahnvorstellungen gesteckt haben soll, konnte überwältigt werden. Er wurde ins ZfP verlegt, mit Beruhigungsmitteln behandelt und den beiden Pflegerinnen der Nachtschicht überlassen. Ein schwerer Fehler, wie sich schnell herausstellen sollte. Denn von dem großen und muskulösen Mann ging noch immer Gefahr aus.
Die Szenen, die beide Frauen vor Gericht mit brüchiger Stimme schildern, zeugen von roher Gewalt und Grausamkeit. Der 36 Jahre alte Krankenpflegerin schlug er ins Gesicht, trat gegen ihren Kopf, gegen den Rücken, übersäte sie mit Fausthieben. Ihre 63-Jährigen Kollegin, die ihr zu Hilfe eilen wollte, schlug er ebenfalls nieder, trat und prügelte auf sie ein und würgte sie. „Ich dachte, hier sterbe ich jetzt. Er bringt uns um“, sagte die ältere Krankenpflegehelferin vor Gericht aus. Ein halbes Jahr Physio- und 20 Monate Traumatherapie habe sie absolviert, um ein schmerz- und angstfreies Leben führen zu können. Mit nur mäßigem Erfolg, wie sie selbst sagte. Angst und Schmerzen habe sie noch immer.
Angeklagter hat sich Monate aus der Psychose kämpfen müssen
Der 38-jährige Angeklagte habe nach diesem Übergriff fast ein halbes Jahr in Isolation und oft unter Fixierung verbringen müssen, um wieder halbwegs ansprechbar zu sein, berichtete der Gutachter. Wie konnte das geschehen? Der Gutachter klärt auf: Der 38-Jährige habe Stück für Stück, aber scheinbar in Absprache mit einem Arzt, seine Medikation reduziert, bis zu einer Menge, die keinerlei Wirkung mehr gehabt habe.
Schon in der Vergangenheit habe der Angeklagte ohne die richtige Dosis extreme Gewalt in Folge seiner psychischen Erkrankung angewandt. Einem Freund soll er mit einer Gaspistole ins Gesicht geschossen haben. Er sei der Überzeugung gewesen, dieser habe seine damalige Partnerin verführt. Eine Wahnvorstellung wie sich herausstellte.
Ein anderes Mal soll er versucht haben, seinen kleinen Neffen mit einem Kissen zu ersticken. Die anwesende Mutter des Angeklagten soll versucht haben, ihren Enkel zu retten. Auf sie soll der 38-Jährige dann mit einem Messer eingestochen und einen Lungenflügel durchbohrt haben. Nur eine Not-Operation habe ihr Leben gerettet. Eine andere ehemalige Freundin soll er ebenfalls im Wahn mit einem Gürtel geschlagen und gewürgt haben.
Der Aufenthalt im ZfP ist zeitlich nicht beschränkt
Wie lange der 38-Jährige nun im ZfP bleiben wird, sei noch offen, erklärte der Gutachter. Noch arbeite man mit ihm daran, dass er seine Erkrankung auch akzeptiere. „Da fehlt bisher die Einsicht“, sagte der Facharzt für Psychiatrie. Auch die wirksame Medikamenten-Dosis lehne er im Grunde ab. Mit der richtigen Menge sei er keine Gefahr für die Allgemeinheit, versicherte der Gutachter.
Seine Angaben zur Person sowie seine Äußerungen zu den Geschehnissen fanden auf Wunsch seiner Anwältin unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt. Doch der Gutachter merkte an, dass der 38-Jährige noch immer ausweichend auf seine Gewalttaten reagiere, was dafür spreche, dass er seine Erkrankung nicht wahrhaben wolle.