Herr Giesinger, Sie wohnen schon. Warum wollen Sie und andere Vertreter des BUND und des Nabu unter Mithilfe der Grünen-Abgeordneten Nese Erikli diesen Wunsch von vielen Familien in Stahringen verhindern?
Es ist nicht so, dass die Naturschutzverbände den Eigenheimbesitz komplett verhindern wollen. Wir sind aber der Auffassung, dass es auch anders geht. Meine Frau und ich haben zwei Jahre gesucht, bis wir ein älteres Haus im Bestand fanden. Das haben wir mit viel Nervenverbrauch renoviert. Böhringen war nicht der Ort, wo wir hinziehen wollten. Inzwischen sind wir froh über alles, was wir hier erlebt haben. Wir bewohnen das Haus auf 130 Quadratmetern immer noch mit unseren zwei erwachsenen Kindern.
Diese Argumente ziehen nicht. Alles wurde versucht, um Baulücken in Stahringen zu bekommen und zu überbauen.
Das sehe ich anders. Ein Beispiel: Seit drei Jahren gibt es den Gemeinderatsbeschluss, dass ein Leerstandsmanager eingestellt wird. Die Stelle ist bis heute nicht besetzt, die Ausschreibung war wenig attraktiv. Wer in Zeiten der Wohnungsnot ein Haus leer stehen oder verfallen lässt, der verdient die Empörung der Gesellschaft. Das ist die Konsequenz der Wohnungsnot und nicht, dass wir rücksichtslos mehr und mehr Biotope oder Äcker bebauen.
Die Stahringer haben viele Streuobstwiesen und pflanzen viele Bäume. Werden da nicht diejenigen bestraft, die sich schon um die Landschaft kümmern?
Darüber, ob die Stahringer mehr fürs Streuobst tun als andere, erlaube ich mir kein Urteil. Ich denke, dass wir Abstand davon nehmen müssen, Streuobst, Wald oder wertvolle Äcker in dem Maß fürs Bauen in Anspruch zu nehmen, wie wir es seit Jahrzehnten tun. Es muss aufhören, dass solche Flächen als Verfügungsmasse für Bauland betrachtet werden.
Sie hätten im Juli 2020 auf den Paragraphen 33a des Landesnaturschutzgesetzes hinweisen können, der den Erhalt von Streuobstbeständen gebietet. Aber Sie und Frau Erikli machen das Fass erst nach der Wahl auf. Warum so spät?
Es war damals nicht gleich klar, wie der Streuobstschutz im neuen Gesetz zur Stärkung der Biodiversität umgesetzt wird. Es musste erst deutlich werden, ob sich daraus ein Hebel für konkrete Fälle entwickelt. Ich sehe es so, dass nun die Entscheidung nicht mehr in der Hand der Behörden vor Ort liegt, auch nicht beim Landratsamt. Ich bin froh, wenn die Entscheidung endlich klar ist.
Man hat alle im Glauben gelassen, dass es mit dem Baugebiet klappt, und jetzt stellt ein Gesetz alles infrage, hat das nicht ein Gschmäckle?
Entwicklungen, die manche Leute für gut halten, die aber plötzlich durch ein neues Gesetz unterbrochen werden, sind Alltag in unserem Rechtsstaat. Das gibt es auch zu Lasten der Umwelt oder von Arbeitsplätzen. Beispiel: Durch die plötzliche Einschränkung der Solarförderung wurden vor ein paar Jahren mehrere Zehntausend Solar-Arbeitsplätze vernichtet. Für die Familien in Stahringen gibt es die Möglichkeit, woanders in Radolfzell zu bauen oder in Stahringen einen Leerstand oder eine Baulücke zu bekommen.
Aber man muss den Menschen doch adäquate Wohnverhältnisse bieten, sonst werden Sie kaum Verständnis für Naturschutz erwarten können?
Im Zeitraum von 2015 bis 2025 wird Radolfzell eine Fläche bebauen, die so groß ist wie der Mindelsee. Ein großer Anteil davon sind Einfamilienhäuser für den Eigenbesitz. Hinzu kommen frei werdende Häuser im Bestand. Es gibt Möglichkeiten, hier ein Einfamilienhaus zu finden.
Teilen Sie die These, dass es künftig keinen Neubau von Einfamilienhäusern mehr geben darf?
Dass man sich als Familie ein solches Haus wünscht, verstehe ich. Das wollten wir als Familie zu einem bestimmten Zeitpunkt ja auch. Aber man kann sich nicht Ort und Preis beliebig aussuchen. Das Leben ist kein Wunschkonzert. Was die Wohnungsnot angeht: Es ist ja in aller Regel nicht so, dass Leute, die sich ein Einfamilienhaus leisten können, vorher in großer Not wohnen. Es sind eher Alleinerziehende, Menschen mit vielen Kindern oder Leute ohne geregeltes Einkommen, die in Wohnungsnot sind. Die können sich kein Einfamilienhaus im Eigenbesitz leisten. Wir bauen in Radolfzell zu viel vom Falschen: In 70 Prozent der Häuser und Wohnungen wohnen heute ein bis zwei Personen. Wir müssen für genau diese Nachfrage und zudem altersgerecht bauen, und nicht in erster Linie das Einfamilienhaus im Eigenbesitz.
Es drängt sich der Eindruck auf, dass die Naturschützer vehement immer dort auftreten, wo es gegen den Wohnungsbau geht. Dafür drücken sie bei anderen Projekten ein Auge zu.
Der Eindruck ist verständlich, aber falsch. Vorab: Alles Kümmern um kommunale Bauprojekte durch BUND oder andere Verbände geschieht im Kreis Konstanz ehrenamtlich. Damit hängt es maßgeblich zusammen, dass manche Bauprojekte von den Naturschutzverbänden intensiver und andere weniger intensiv bearbeitet werden. Wenn ich selbst zu einem örtlichen Projekt aktiv werde, geschieht dies ehrenamtlich.
Wo bleibt Ihr Protest zu den Projekten Feriendorf im Streuhau in Radolfzell und dem Gewächshaus, das das Pestalozzi-Kinderdorf bauen will?
Beim Streuhau gab es zwischen 2008 und 2018 vier Abstimmungen im Gemeinderat Radolfzell, alle mit überwältigender Mehrheit pro Hotelanlage. Trotz großer SÜDKURIER-Berichte rührte sich bis etwa 2018 die Bevölkerung nicht. Rechtliche Hebel zur Verhinderung der Anlage wurden bis heute nicht gefunden. Die Naturschutzverbände gingen und gehen daher davon aus, dass das Projekt nicht zu verhindern ist. Wir wollten für die Natur retten, was zu retten ist, und erreichten bei Stadt und Investor, dass wenigstens der westliche Bereich Richtung Naturschutzgebiet Radolfzeller Aachried und Mooser Bucht beruhigt werden kann. Auch beim Gewächshaus in Wahlwies gab es keine rechtlichen Hebel.
Dennoch könnten Naturschützer eine Meinung haben. Oder sind im Kinderdorf die Guten, die dürfen 1,6 Hektar landwirtschaftliche Fläche nahe an einem Biotop mit einem Glashaus versiegeln?
Es gab Gespräche des BUND mit der Bürgerinitiative. Wir finden es auch nicht gut, dass die Bauherren sich über die ablehnende Haltung von Ortschaftsrat und Gemeinderat an diesem Standort hinweggesetzt haben. Der Vorwurf, wir würden zu wenig gegen Großprojekte vorgehen, die nichts mit Wohnbebauung zu tun haben, stimmt nicht. Wir gehen oft dagegen vor, rechtlich und politisch. Der Flächenfraß kommt durch Neubau von Straßen, Gewerbegebieten und Bauten in der Landwirtschaft wie den Mega-Ställen zustande. Da sind wir massiv dagegen. Jedes Jahr wird in Deutschland eine Fläche so groß wie der Bodensee zugebaut. Wie lange noch? Wir müssen Lösungen finden, im Bestand zu bauen.
Müsste die Konsequenz dann nicht lauten, wir schaffen ein großes Schutzgebiet aus dem Biotop Streuhau und dem Gelände des Bodenseereiters am See?
Im Moment wäre das Kämpfen gegen Windmühlen. Weil im Gemeinderat keine Mehrheit dafür zu bekommen wäre, auch die Behörden winken das Tourismusprojekt durch und aus der Bevölkerung kommt zu wenig Druck.
Um OB Staab zu zitieren: Ist bisher nur eine lautstarke Minderheit gegen die Bebauung des Biotops Streuhau?
Ich formuliere es mal so: Die Minderheit müsste noch etwas größer werden, damit es realistische Chancen gibt, dieses Projekt aus der Bevölkerung heraus zu verhindern. Wir vom BUND haben immer gesagt, es wäre uns am liebsten, wenn dort nichts käme.
Fragen: Georg BeckerDrei umstrittene Bauprojekte in sensibler Umgebung
- Zur Person: Thomas Giesinger (61) ist Vorstandsmitglied und Ansprechpartner im Ortsverband des Bunds für Umwelt und Naturschutz Deutschland (BUND). Hauptberuflich ist Giesinger Koordinator für Ehrenamtsförderung in der Hauptgeschäftsstelle des BUND im Radolfzeller Ortsteil Möggingen.
- Das Freiwiesle: Der Radolfzeller Gemeinderat fasste nach vielen Vorberatungen den Satzungsbeschluss für einen Bebauungsplan auf der Stahringer Streuobstwiese „Unterm Freiwiesle“ im Februar dieses Jahres. Die Satzung hat nach Kenntnisstand des Ortschaftsrats durch die Veröffentlichung am 13. Mai Rechtskraft erlangt. Unklar bleibt, wie der Widerstand der beiden Grünen-Landtagsabgeordneten Nese Erikli und Markus Rösler sich auswirkt. Sie haben angekündigt, unter Berufung auf Paragraf 33a des Landesnaturschutzgesetzes das Baugebiet verhindern zu wollen. Seit Juli 2020 sieht der Paragraf eine Erhaltung von Streuobstbeständen vor, die eine Mindestfläche von 1500 Quadratmetern umfassen.
- Der Streuhau: Investor Bernd Schuler plant im Biotop Streuhau ein Feriendorf auf 25.000 Quadratmetern. Das Gebiet zwischen Bodenseereiter und Bora-Areal umfasst sechs Hektar und liegt im westlichen Teil des Herzengeländes. Das Landratsamt hat seine Zustimmung signalisiert, wenn im Tausch das Bodenseereitergelände zum Schutzgebiet erklärt wird.
- Das Gewächshaus: Das Pestalozzi-Kinderdorf in Wahlwies plant nahe den Aachauen ein 1,6 Hektar großes Gewächshaus. Das Kinderdorf wählte den Standort, weil dort eine Erweiterung möglich sei. Dazu kommen technische Anlagen wie ein 800-Kubikmeter-Wassertank und eine Hackschnitzelanlage. Eine Baugenehmigung liegt vor. Gemeinderat Stockach und Ortschaftsrat Wahlwies sprachen sich gegen diesen Standort aus. Die Bürgerinitiative „Nein zum Standort Aach“ hat das Projekt dem Petitionsausschuss des Landtags vorgelegt, eine Entscheidung steht noch aus.