Diese Pressemitteilung kam aus heiterem Himmel. Die beiden neu gewählten Grünen-Landtagsabgeordneten Nese Erikli (Wahlkreis Konstanz-Radolfzell) und Markus Rösler (Wahlkreis Vaihingen) haben es sich laut einer Presseinformation zur Aufgabe gemacht, Streuobstwiesen im Land vor Wohnbebauung zu schützen, wie zum Beispiel das Freiwiesle in Stahringen.

Für den Ortsvorsteher Jürgen Aichelmann sowie den gesamten Ortschaftsrat kam diese Nachricht wie aus dem Nichts. Denn vor wenigen Wochen sind die letzten Details über die Erschließung der geplanten Bebauung im Stahringer Neubaugebiet „Unterm Freiwiesle“ sowie der zentrale Sammelort für die Mülltonnen des Wohngebietes geklärt worden. Und auf einmal sollen alle Pläne auf der Kippe stehen? „Für mich ist das nicht nachvollziehbar. Ich weiß nicht, woher das auf einmal kommt“, sagt Aichelmann verwundert.

Lange hat der Stahringer Ortschaftsrat für dieses Wohngebiet gekämpft. Der Wunsch nach neuem Wohnraum im Ortsteil Stahringen ist groß. Die im Dorf befindlichen Baulücken seien alle in privater Hand und können von städtischer Seite nicht für eine Bebauung herangezogen werden.
In 15 Jahren seien insgesamt 19 neue Häuser im Zuge der Nachverdichtung errichtet worden, rechnet Aichelmann vor. Mehr sei einfach nicht drin gewesen. Die Ortsverwaltung führe aktuell eine Liste mit 56 bauwilligen Familien. Im Freiwiesle sollen nun sieben Einfamilienhäuser und 14 Doppelhäuser sowie ein Mehrfamilienhaus entstehen. Wohnraum, der sehnlichst erwartet wird.
Streuobstwiesen sind geschützt
Doch warum möchten die Grünen-Landtagsabgeordneten nun das Baugebiet stoppen? Der Schutz von Streuobstbeständen insbesondere gegen Bebauung sei ein wichtiger Bestandteil eines gemeinsam mit Landwirtschaft und Naturschutz erkämpften Kompromisses im Biodiversitätsstärkungsgesetz vom Juli 2020, heißt es in besagter Presseinformation. „Die Erhaltung der in gutem Pflegezustand befindlichen Streuobstwiese ist daher dringend geboten“, erklärt die Abgeordnete Nese Erikli.
Auf sie zugegangen seien der BUND Ortsverband Radolfzell und der BUND Regionalverband Bodensee-Oberschwaben. Diese hätten Zweifel geäußert, ob die Anforderungen des Erhaltungsgebots von Streuobstwiesen nach dem Naturschutzgesetz Baden-Württemberg (Paragraf 33a) und die Voraussetzungen für das beschleunigte Verfahren nach dem Baugesetzbuch (Paragraf 13b) eingehalten worden seien.
Um genau zu sein, so erklärt Erikli am Telefon, hätten sich besonders die ehemalige Stadträtin der Freien Grünen Liste (FGL), Beate Giesinger sowie der Stahringer Günther Schäfer, Besitzer einer Bio-Streuobstmosterei, in dieser Sache sehr aktiv engagiert.
Diese hätten immer wieder an das Landratsamt und das Umweltministerium geschrieben. Diese Korrespondenz sei Grundlage ihres Vorgehens gewesen. Es gehe darum sicherzustellen, dass das, was im Naturschutzgesetz festgelegt sei, auch von der Verwaltung umgesetzt werde.
Zur rechtlichen Lage und den bisherigen Kosten der Planung
Weitere Unterstützung erhält Erikli vom naturschutzpolitischen Sprecher der Grünen im Landtag, Markus Rösler. „Der Paragraph 33a Landesnaturschutzgesetz zum Schutz von Streuobstbeständen gilt seit Juli 2020 für alle noch im Verfahren befindlichen und über 1500 Quadratmeter großen Streuobstbestände. Zu diesem Zeitpunkt lag in Radolfzell noch kein rechtskräftiger Bebauungsplan vor. Die Mitteilung des Landratsamtes Konstanz, dass das Bebauungsplanverfahren zu diesem Zeitpunkt bereits weitgehend abgeschlossen war, ist juristisch völlig irrelevant. Der Schutz gilt seit Juli 2020 vollumfänglich“, wird Rösler in der Presseinformation zitiert.
Stadt bestätigt, dass das Projekt noch zu stoppen sei
Und auch der Pressesprecher der Stadt Radolfzell, Moritz Schade, bestätigt: „Theoretisch ist das Baugebiet noch zu stoppen“. Der Bebauungsplan „Unterm Freiwiesle“ sei am 9. Februar 2021 vom Gemeinderat als Satzung beschlossen worden. Rechtskraft erhalte ein Bebauungsplan durch eine ortsübliche Bekanntmachung. Diese Veröffentlichung sei noch nicht erfolgt.

Die Politiker Erikli und Rösler haben andere Pläne: „Wir werden diesen Vorgang dem Umweltministerium zur Prüfung vorlegen. Es darf nicht sein, dass 40 Streuobstbäume auf Basis falscher Annahmen über den Schutzstatus gerodet werden“, teilt Erikli mit.
Das Landratsamt Konstanz habe bestätigt, dass die Streuobstwiese „von großer Bedeutung sowohl für Natur und Landschaft als auch für den Artenschutz ist“. Im Abwägungsprozess sei das Landratsamt aber zu der Überzeugung gelangt, dass das öffentliche Interesse am Erhalt der Streuobstwiese das öffentliche Interesse an der Schaffung von dringend benötigtem Wohnraum nicht überwiege. Diese Einschätzung soll erneut überprüft werden.
Intensive Diskussion in 2019
Genau diese Diskussion ist auch vor gut zwei Jahren im Radolfzeller Gemeinderat intensiv geführt worden. Im Mai 2019 wurde die Bedeutung alter Streuobstbäume für die Umwelt gegen den Wunsch der Bevölkerung nach Wohnraum abgewogen. Als Kompromiss einigte man sich auf eine Planung des Areals, die möglichst viele der Bäume erhalten könne. Die so genannte „Hofvariante“ stellte den geringsten Eingriff in den Streuobstbestand dar.

Etwa 1000 Quadratmeter des Streuobstbestands würden im Bebauungsplan als „öffentliche Grünfläche mit Streuobst“ festgesetzt und damit langfristig erhalten, informiert Moritz Schade über den Stand der Planung. Das Landratsamt hatte der Planung grundsätzlich zugestimmt, wenn als Ausgleich rund 4500 Quadratmeter an anderer Stelle eine neue Streuobstwiese geschaffen oder eine bestehende Streuobstwiese ergänzt werde. „Wir werden sogar noch mehr neue Bäume pflanzen, als überhaupt gefällt werden müssen“, versichert Ortsvorsteher Jürgen Aichelmann.
Kritik an den Ausgleichsmaßnahmen
Diese Maßnahmen genügen Streuobstmoster Günther Schäfer nicht. Er gibt an, sich in dieser Sache „nicht öffentlich“ geäußert zu haben. Die Ausgleichsmaßnahmen erachte er dennoch für völlig unzureichend, schreibt er auf Anfrage des SÜDKURIER. Eine bewirtschaftete Streuobstwiese könne nicht nur über Fläche und die Anzahl der Bäume ausgeglichen werden, sie müsse auch in ein Nutzungskonzept eingebunden werden.
„Streuobstwiesen sind ein Kulturgut. Es ist so, als ob ein Dürer oder Michelangelo verbrannt werden und dann ein Kopist den Auftrag bekommt, ein ähnlich großes Bild mit vergleichbarem Motiv auf eine Leinwand zu malen. Wie viele Menschen hätten wohl Interesse, eine Ausstellung mit dieser Kopie zu besuchen?“, so Schäfer. Ein eigenes Interesse am Freiwiesle habe er nicht, sagt er. „Dort stehen weniger als ein Prozent der bei uns unter Vertrag stehenden Bäume.“
Ortsvorsteher Aichelmann geht nun einen anderen Weg. Er will die Grüne-Landtagsabgeordnete Nese Erikli zum Gespräch nach Stahringen einladen und möchte mit ihr vor Ort das Freiwiesle anschauen. Gerne hätte er das schon im Vorfeld getan, bevor die Landespolitikerin auf das Umweltministerium zugeht. Nur leider habe sie im Vorfeld keinerlei Rückfragen oder Auskünfte bei ihm eingeholt.
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