An der Ecke Hebelstraße nahe der Eisenbahnlinie dösen die Grashalme immer noch vor sich hin. Wenn nicht gerade Hund und Herrchen darüber flitzen oder ein paar Jungs nach einem Lederball auf dem Bolzplatz treten.
Auch der Rost an den Trägern des Haselbrunnstegs ist von hier aus schon fast zu erkennen. Das Idyll, wenn man so will, ist aber von vorübergehender Natur. Theoretisch könnten hier schon Container-Module für eine Kindertagesstätte mit rund 70 Plätzen stehen. Theoretisch.
Zustimmung nur mit Faust in der Tasche
Wenn nicht der Gemeinderat Radolfzell wäre. Auch jetzt hat das hohe Gremium der Lieferung, Montage und Miete der Container für eine Kindertagesstätte an diesem Platz nicht ohne einem Aufschrei zugestimmt.
Da erhebt SPD-Stadträtin Susann Göhler-Krekosch das Wort und sagt, sie könne nur mit der Faust in der Tasche zustimmen, wenn man in Hilzingen einen Kindergarten für 2,1 Millionen Euro baut und in Radolfzell Module für einen Mietpreis von 800.000 Euro für zwei Jahre bestellt. „Ich frage mich, warum bei uns alles so teuer ist“, kommentiert sie die Sitzungsvorlage. Und CDU-Stadtrat Christof Stadler ergänzt: „Wir haben uns das alles anders gewünscht.“
Was es so an Wünschen gab
Genau so kann man das sagen. Es gab viele Wünsche aus den Reihen des Gemeinderats. Und sie haben die Sache verlängert und verteuert. Nach Durchsicht der Sitzungsprotokolle zum Projekt Kita-Hebelstraße richtet sich der Aufschrei an die Stadträte selber: Bereits im Juli 2020 hat die Stadtverwaltung dem Gemeinderat den Neubau einer Kindertagesstätte als Modulbau- oder Containeranlage vorgeschlagen. Zu einem ähnlichen Preis wie heute.
Aber die Mehrheit im Gemeinderat wollte es anders. Auf Antrag von Susann Göhler-Krekosch und Siegfried Lehmann wurde statt den Containern ein dauerhaft stehendes und ortsgebundenes Gebäude beschlossen.
Doch es bleibt nicht beim Beschluss für einen ortsgebundenen Kindergarten. Im Ausschuss Planung, Umwelt und Technik im Oktober 2020 treiben die Stadträte die Anspruchsspirale noch einmal nach oben. Christof Stadler fordert angesichts der Wohnraumknappheit eine Aufstockung des Kindergartens: Oben Wohnraum, unten Kindergarten.
Am besten soll das Projekt mit einem Investor umgesetzt werden. Die Stadträte der Freien Grünen Liste (FGL) springen auf den Antragszug auf, es gibt eine Mehrheit. SPD-Stadtrat Norbert Lumbe gibt eine Erklärung zu Protokoll: „Ich fürchte, wir sind in diesem Projekt dort, wo wir schon an vielen anderen Projekten in der Stadt sind: Wir sind dabei, wieder etwas zu verschieben, ohne zu wissen, was wir wann bekommen. Es ist ein Widerspruch zu unserer festen Überzeugung, dass wir Plätze für Kinder brauchen.“
Kein Investor, nirgends
Lumbe sollte recht behalten. Sechs Monate später gibt die Verwaltung bekannt, dass ein Bieter zwar Interesse an dem Projekt bekundet habe, aber im Laufe des Verfahrens sein Angebot wieder zurückgezogen habe.
Nun erteilt der Gemeinderat an die Verwaltung den Auftrag, eine zweigeschossige Kindertageseinrichtung ohne Wohnbau in einem Investorenwettbewerb auszuschreiben. Doch die Stadtverwaltung muss im April 2021 melden: Die Investorenausschreibung zur Errichtung eines Kindergartens in der Hebelstraße mit Vermietung an die Stadt sei erfolglos geblieben.
Drei Interessenten hätten die Ausschreibungsunterlagen heruntergeladen, keiner hätte eine Bewerbung abgeben.
Die Bauverwaltung versucht es im Sommer und Herbst mit weiteren Ausschreibungen. Ohne greifbares Ergebnis. Der letzte Versuch wird im Januar 2022 erfolglos abgebrochen. Die Stadtverwaltung schlägt vor: „Das geplante Kinderhaus wird von der Stadt Radolfzell entsprechend dem Gemeinderatsbeschluss vom 28. Juli 2020 ohne Geschosswohnungen errichtet.“

Doch bereits im Februar 2022 muss die Stadtverwaltung von diesem Plan abrücken, denn der sofortige und dringende Bedarf an Kindertagesplätzen in der Kernstadt lässt eine lange Bauphase nicht zu.
Der Gemeinderat genehmigt eine auf maximal zwei Jahre befristeten Aufstellung und Anmietung eines dreigruppigen Kindergartens als Modul-/Containeranlage in der Hebelstraße. Jetzt, Anfang Juli, zwei Jahre nach der ersten Versuch, das Kita-Problem mit Containern in der Hebelstraße zu lösen, wird die Firma Container GmbH als günstigster Bieter mit der Lieferung und der Montage von Mietmodulen an der Hebelstraße in Radolfzell für den Zeitraum von zwei Jahren beauftragt.
Nicht zweihundert Prozent
Die Erkenntnis von Stadtrat Richard Atkinson (FDP) lautet: „Wir können daraus lernen, wir hätten uns auf das eigentliche Ziel konzentrieren sollen und nicht auf die Zweihundertprozentlösung.“ Das ist eine Theorie, die nach Praxis schreit.