Bei Eltern und Erzieherinnen der evangelischen Kinderkrippe Reichenau liegen die Nerven blank. Immer wieder geht die Einrichtung in den Notbetrieb über, Kinder müssen zu Hause bleiben, Eltern auch – oder sie brauchen tageweise eine andere Betreuung. Allein von Januar bis Juni 2025 seien 15 Notbetreuungstage angefallen, sagt Elternvertreterin Sinja Huesgen.
Für die Mutter ist das Maß voll. Sie hat viele Gespräche mit anderen Eltern und Erzieherinnen geführt, sich an den Träger der Einrichtung und die Gemeinde Reichenau gewandt. Doch sie hat das Gefühl, keinen Schritt voranzukommen. „Unsere Vorschläge zur Verbesserung der Situation werden nicht gehört“, klagt sie.
Dabei sei die Lage mehr als dramatisch, so die 36-Jährige. Sie spricht wörtlich von Missständen, von gezielter Ausbeutung der Fachkräfte, von mangelnder Dankbarkeit des Trägers gegenüber dem Personal, von ersten Verhaltensauffälligkeiten bei Kindern sowie vom drohenden Kollaps der Einrichtung nach den Sommerferien. Was ist da los auf der Insel?
„Das Personal arbeitet seit September 2024 an der Belastungsgrenze“, erläutert die Mutter. Der ohnehin große Personalmangel in Kitas bundesweit schlägt auch hier durch, es habe zusätzlich Ausfälle durch Krankheit und Schwangerschaft gegeben, aber auch Kündigungen.
Das verbliebene Personal sei „am Limit“. Die Mutter Melanie Tabbi vermisst beim Träger vor allem „Selbstreflexion, Transparenz und unkonventionelle Lösungen. Es fehlt der große Wurf, man wurschtelt immer so weiter.“

Das komplette Personal der einen Gruppe sei nicht mehr da. Bis zu den Sommerferien wurde nur noch die zweite Gruppe betrieben, manchmal hatte die Einrichtung nur zwischen acht und zwölf Uhr geöffnet. Oder es durften nur fünf Kinder kommen, obwohl es eigentlich 20 Plätze gibt, so Huesgen. Irgendwann wurde die Größe der Gruppe ausnahmsweise auf zwölf Kinder hochgesetzt, um allen eine Betreuung zu ermöglichen.
„Da sich alle Kinder in einem Raum befanden, war es sehr laut. Nach Angaben der Leitung waren schon Verhaltensauffälligkeiten bei einzelnen Kindern zu beobachten“, sagt Sinja Huesgen, die betont, wie sehr die Eltern die Erzieherinnen und die Auszubildenden wertschätzen. Die enge Personalsituation führte auch zu einem vorübergehenden Aufnahmestopp. Und bei zwei Familien wurde die angefangene Eingewöhnung ausgesetzt.
„Die Kirche schaut weg“, sagt eine Elternbeirätin
Alles ganz normal, weil viele Einrichtungen mit akutem Personalmangel kämpfen? Nein, meint Sinja Huesgen. Andere Träger würden die Probleme besser anpacken. Sie sagt: „Die Kirche versagt, schaut weg. Gespräche mit der Evangelischen Kirchengemeinde Reichenau als Trägerin und dem Evangelischen Verwaltungszweckverband (VSA) liefen ins Leere.“
Deren Erklärungsversuche empfindet sie als „leere Worthülsen“. Ihre Forderung: „Die Gemeinde Reichenau muss aktiv werden und die Trägerschaft übernehmen.“
Den Verdruss der Eltern kann Christina Schmidt, Teamleitung im Fachbereich Tagesstätten für Kinder beim VSA, durchaus nachvollziehen. Sie bedankte sich bei den Eltern für deren Verbesserungsvorschläge, doch vieles davon sei rechtlich oder finanziell nicht machbar.
„Ihre Vorwürfe an uns, untätig zu sein, sind haltlos“, schreibt Schmidt den Eltern. „Wir sind nicht erst seit gestern in aller Professionalität auf der Suche nach Lösungen.“ Die Personalausfälle seien nicht struktureller, sondern punktueller Art.
„Gegen den Begriff der Ausbeutung verwehren wir uns“
Im Übrigen werde das Personal sehr wohl wertgeschätzt: „Die Kirchengemeinde ist sich des Einsatzes und der sehr guten Arbeit ihrer Fachkräfte stets bewusst“, schreibt die Teamleiterin auf SÜDKURIER-Nachfrage. „Auch die sehr kooperative Zusammenarbeit in schwierigen Zeiten spricht für die Professionalität und Hingabe der Mitarbeitenden. Gegen den Begriff der Ausbeutung verwehren wir uns.“
Wie geht es nun weiter? „Der Mindestpersonalschlüssel ist erfüllt, eine freie Stelle ausgeschrieben. Sobald die neue Fachkraft eingearbeitet ist, können neue Kinder aufgenommen werden“, teilt Christina Schmidt mit. Und die Überbelegung der Gruppe, „eine herausfordernde Situation für Fachkräfte und Kinder“, sei von vornherein nur für vier Wochen geplant gewesen.
Die Kirchengemeinde beabsichtige nicht, die Einrichtung abzugeben. „Die Kirche spielt aus ihrer Historie heraus eine wichtige Rolle in der Kindertagesbetreuung“, betont Christina Schmidt. „Ein Trägerwechsel würde den Wegfall des evangelischen Profils bedeuten, der Fachkräftemangel und sämtliche damit verbundenen Themen bleiben aber bestehen.“
Auch Mario Streib, Hauptamtsleiter der Gemeinde Reichenau, ist an einer zuverlässigen Betreuungslandschaft gelegen. Abgesehen davon, dass die Kirchengemeinde die Trägerschaft gar nicht abgeben möchte, sei eine Übernahme durch die Kommune rechtlich aber nicht möglich. In einem solchen Fall müsste, falls sich kein anderer Träger findet, die Gemeinde 20 weitere Plätze zur Verfügung stellen.
Die Kommune versucht zu helfen, indem sie unter anderem Personal aus der eigenen Einrichtung in die evangelische Kinderkrippe überstellte. „Aktuell würde dies aber Einschränkungen für unseren Betrieb bedeuten, weshalb dies derzeit nicht möglich ist“, so Mario Streib.

Weitere Möglichkeiten zur Verbesserung der Situation in der evangelischen Kinderkrippe würden durch die Gemeinde geprüft. Sinja Huesgen wäre dankbar für neue Ansätze. Dennoch sorgen sich die Eltern: „Was passiert nach den Sommerferien? Öffnet die Krippe überhaupt noch?“ Christina Schmidt beruhigt: „Es stand niemals zur Debatte, die Einrichtung im September zu schließen. Es ist genügend Personal für zwei Gruppen mit je sechs Stunden Betreuung am Tag vorhanden.“