Die Reichenau-Waldsiedlung ist nicht nur ein Wohngebiet kurz hinter der Konstanzer Stadtgrenze. Hier gibt es in der Straße Am Dachsberg auch ein kleines Gewerbegebiet. Dort wird Salatsauce produziert, man kann ein Fahrrad oder ein Sofa kaufen. Dazwischen das futuristisch anmutende Firmengebäude von Ladegast, die hauptsächlich Faltschachteln fertigen und Beipackzettel drucken für die pharmazeutische Industrie.
Karl-Heinz Brasch, der Erfinder der gleichnamigen Salatsauce, hat schon an Jüngere übergeben. Er schaut nur noch ab und zu vorbei und erzählt von den Zeiten, als er am Konstanzer Bodanplatz bis Ende der 1970er-Jahre das Restaurant Trafalgar führte. „Da habe ich noch gekaufte Salatsauce eingesetzt, bis eines Tages ein Gast meinte, so einen lausigen Salat habe er noch nie gegessen.“
Was ihn herausforderte! Er mixte selbst. Und ab da kam nur noch die selbst gemachte Salatsauce auf den Tisch, was bei den Gästen, dann auch in Dettingen im Weiherhof, gut ankam. „Manche kamen mit leeren Flaschen und ließen sich die Salatsauce sogar abfüllen.“ Sodass er 1988 entschied, daraus ein Unternehmen zu machen.
Zunächst war die Firma noch in Konstanz in einer Kellerwerkstatt am Zähringerplatz ansässig. „Ich machte alles selbst: Herstellen, abfüllen, ausfahren.“ Bei den Restaurants konnte er mit seinen Zehn-Liter-Kanistern erstmal nicht landen. Denen war das zu teuer, bis er auf die Idee kam, es bei Gemüseläden zu probieren. „Und ab da ging es los.“ Und jedes Jahr aufwärts, mit der Ein-Liter-PET-Flasche Salatsauce aus der Waldsiedlung.
Nur wenige Häuser daneben wohnt Britta Sauer-Böhm. Ende März hat sie als Reichenauer Gemeinderätin aufgehört, nach 18 Jahren war Schluss. Sie hat unter anderem 15 Jahre dafür gekämpft, dass die Waldsiedlung eine stündliche Busverbindung bekommt, die schließlich am 1. Januar 2020 das mühsame Sammeltaxi ablöste.
Kurz vor ihrem vierten Lebensjahr zog sie mit ihren Eltern hierher, lernte schon im Kindergarten ihren späteren Mann Christof kennen, studierte in Ulm, aber hatte da schon den klaren Wunsch, wieder in die Waldsiedlung zurückzukehren. „Unsere Eltern leben auch noch hier, alle nun über 80. Da ist es sehr praktisch, dass wir immer mal nach ihnen schauen können.“ Und früher hatte man die Großeltern für die Enkel.
Es gebe einige solcher Paare hier, die sich früh gefunden haben, und sogar einige, die nie weggegangen seien, erzählt Britta Sauer-Böhm. Bei manchen wollen auch die Kinder wieder hier wohnen. Es sei halt eine tolle Dorfgemeinschaft, mit all den Vereinen, und dann sei man von hier aus schnell beim Einkaufen am Reichenauer Bahnhof oder im Industriegebiet am Eingang von Konstanz.

„Auch das Gewebegebiet finde ich gut“, sagt sie. Samstags komme man da manchmal kaum durch, aber so bleibe die Waldsiedlung belebt. 2001 hatten sie in der Straße Am Dachsberg, zusammen mit Schwester und Schwager, ein Haus gekauft. „Vier Tage vor der Umstellung auf Euro waren wir beim Notar.“ Bezahlt wurde also noch in D-Mark.
Am Haus hängt eine Gewerbehalle dran, die zunächst vom Dänischen Möbelhaus aus der Stadt als Lagerhalle genutzt wurde. Hinten raus Terrasse, Garten, fast schon Wald. Die befahrenen Straßen, die die Waldsiedlung umzingeln, sind nur als vages Grundrauschen im Hintergrund zu hören. „Mich stört das nicht.“ Mehrere Schildkröten wackeln gemütlich über den Rasen, die nach dem Alphabet benannt werden. „So lange, bis wir wissen, welches Geschlecht sie haben.“ Anna, Basti und Coco sind inzwischen geschlechtlich identifziert, D und E warten noch auf ihre Bestimmung.
Am Herrlebühl steht Elfriede Drewniok und zupft Unkraut. Die Wiese vor ihrem Haus ungemäht, dafür mit vielen bunten Wiesenblumen, ihr Haus direkt am Waldrand „Ich bin ein Naturmensch“, bekennt sie. Dann lebt sie hier ja genau richtig. Aber wenn sie da vorne auf die Bundestraße schaue, was dort geschehe, dann bekomme sie einen Hass.

Das sei eine „Weltsünde, für die uns spätere Genrationen steinigen werden“, sagt Drewniok. Wenn sie nur könnten. „Und dass man in Hegne Schwierigkeiten mit dem Untergrund bekommen würde, das hätte denen schon mein Großvater sagen können.“ Der hat Straßen im Schwarzwald geplant.
Überhaupt: Warum hat man nicht die Dachsbergvariante verwirklicht? Einen Tunnel von Hegne aus durch den Berg, und hier unten auf der Bundestraße den Individualverkehr zum Lindenbühl, zur Waldsiedlung.

Und dazu jetzt noch die geplante Sperrung der Landesstraße von Wollmatingen her. Für sie – und für viele andere – bedeutet das 2,5 Kilometer mehr, wenn man von Allensbach kommend nach Hause fahren will. „Da gehe ich jeden Samstag einkaufen!“ Sie schüttelt den Kopf, ist frustriert. „Das tut weh!“
Ihr Mann, Karl-Heinz Drewniok, ist Ehrenvorsitzender des Siedler-und Kleingärtnervereins, ihr Haus steht seit 1983. Und über den ganzen Ärger vergisst sie fast zu erwähnen, dass „hier drinnen zu wohnen, so schön ist.“ Aber wenn sie da nach vorne zur Bundesstraße schaue, dann „... na ja, Sie wissen schon“.
Die Straße geht in den Buchbrünnleweg über, dort stehen mit die ältesten Häuser aus den 1950er-Jahren. Im Garten eines Doppelhauses entspannt sich Thomas Ecke auf einer Liege. Er wohnt hier mit seiner Frau Carina zur Miete. 73 Quadratmeter, aber ein nettes Grundstück drumherum mit Wiese und kleinem Gemüsegärtchen.

Ecke kommt aus Berlin, war als Schauspieler am Stadttheater von 2006 mit Unterbrechungen bis 2020 tätig. Entschied sich dann für die Freiberuflichkeit – und stürzte ins Coronaloch. Bis heute kein Engagement. „Man schlägt sich halt so durch.“ Vielleicht geht ja jetzt langsam wieder etwas.
Obwohl er mit am nächsten zur Bundesstraße wohnt, hat er die Bauarbeiten nicht als so schlimm erlebt. Nur das Einklopfen der Pfähle, die dort in bis zu 20 Meter Tiefe getrieben worden seien, sei laut gewesen. „Aber das ging ja nur einige Tage.“ Gespannt sei er, ob die Lärmschutzwände vor dem Tunnel etwas bringen werden, der Tunnel selbst beginne ja erst weiter vorne.

Im Winter und Frühjahr kann er vom Wohnzimmer-Fenster aus, wenn die Bäume kein Laub tragen, auch die Reichenau sehen. „Wenn dort dann mal wieder das Schilf brennt, sieht das aus, als sei ein Flugzeug abgestürzt, so raucht das!“ Ja, über den Verkehr gebe es viel zu sagen: Dass viele Autofahrer die Straße vom Lindenbühl hoch als Stauumfahrung nutzen würden, wenn die Bundestraße zu ist. „Und dann staut es sich auch hier.“
Dass dort ein Fahrradweg quert, den viele Kinder auf dem Weg ins Marianum nutzen. „Trotzdem ist da 70 erlaubt, die Autos kommen angeschossen.“ Als dort eine Baustellenausfahrt war, wurde die Geschwindigkeit auf 50 begrenzt. Das sei doch zynisch, oder?
Doch auch er genießt die Ruhe hier drinnen in der Waldsiedlung, wo der Verkehr immer nur ein Hintergrundrauschen von draußen bleiben wird.