Wenn Ute Seifried könnte, würde sie einen Raum herzaubern. Denn wie schon vor einem Jahr hat Singen mehr Kinder und Jugendliche, die in einer Vorbereitungsklasse besonders gefördert werden sollten, bevor sie regulär die Grund- oder weiterführende Schule besuchen. Doch Singens Bürgermeisterin kann nicht zaubern und sieht keine Möglichkeit, weitere Schüler unterzubringen. Aktuell besuchen bereits 178 Schüler eine der zwölf Vorbereitungsklassen in der Stadt, weitere 24 warten teils seit Monaten auf einen Platz. 

Deshalb hat Ute Seifried die Bürgermeister umliegender Gemeinden um Hilfe gebeten. Doch die Rückmeldung kam zögerlich und spärlich, schildert sie: „Es ist ein Bitten und Betteln.“ Auch Stephan Wohlgemuth vom Schulamt Konstanz bestätigt: „Die Bereitschaft umliegender Orte, so eine Klasse unterzubringen, ist sehr, sehr, sehr gering.“

Am Mittwoch begann der Unterricht für 15 Schüler. Doch neun warten weiterhin.

Vorerst können die Beteiligten aufatmen: Die auf der Warteliste stehenden Grundschüler werden demnächst in Steißlingen unterrichtet. Eine Lehrerin ist seit Mittwoch vor Ort und nächste Woche sollen die Schüler kommen. Doch das Problem ist damit nicht erledigt, denn ein Raum für die neun älteren Schüler ist nicht in Sicht. „Ich bin sehr unglücklich, dass das jetzt vier Monate gedauert hat“, sagt Wohlgemuth, „denn darunter leiden besonders die Kinder und Familien.“ Ohne Schulplatz sitzen die Kinder unbeschäftigt zu Hause, häufig allein und ohne den so dringend benötigten Sprachunterricht, den es für eine Integration braucht.

Dabei war bereits nach den Sommerferien klar, dass die Möglichkeiten in Singen nicht ausreichen werden. Im September habe Wohlgemuth sich um eine weitere Vorbereitungsklasse bemüht, wie er sagt. Laut Benjamin Mors, Bürgermeister Steißlingens, hat das Einrichten an der Gemeinschaftsschule auch deshalb gedauert, weil bislang Kindergarten-Kinder den Raum benötigt haben und die Gemeinde die VKL nicht von anderen Schulkindern isoliert unterbringen wollte. Außerdem sei es eine höchst bürokratische Geschichte zwischen Gemeinde, Schulamt und Regierungspräsidium, weshalb es sich in die Länge ziehe. Doch Steißlingen wolle einen Beitrag leisten und zeige sich solidarisch. Das tut nicht jede Umlandgemeinde, wie Ute Seifried bedauernd erklärt – ohne Namen zu nennen.

Die meisten auf der Warteliste sind zugewandert. Deshalb müssen Nachbarn nicht helfen.

Verpflichtet sind die Nachbarn nicht, Singen zu helfen. Denn weil es sich kaum um Flüchtlinge handelt, regelt keine Gemeindequote die Verteilung. Unter den Kindern und Jugendlichen auf der Warteliste sind nur drei aus Syrien und damit vor Krieg und Tod geflüchtet. Die anderen sind aus Europa zugewandert. „Die Eltern ziehen hierher, weil sie Arbeit bekommen und Wohnungen finden“, erklärt Seifried. Doch weil Singen mit 1140 Menschen bereits 300 Flüchtlinge mehr aufgenommen hat als vorgeschrieben, sei in den VKL kein Platz mehr.

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Ute Seifried bezeichnet es als „grandiose Leistung“, wie Schulen in den vergangenen Jahren zur Integration beigetragen haben. Doch diese Leistung habe Grenzen, auch räumliche. „Die Situation ist in Singen weiterhin sehr angespannt“, sagt Schulrat Stephan Wohlgemuth.

Ein Problem der freien Schulwahl: In Singen sind viele Schüler aus dem Umland

Dabei sind die Räume theoretisch vorhanden, sodass Ute Seifried gar nicht zaubern lernen müsste. Doch sie werden anderweitig genutzt – auch von Schülern aus dem Umland. Denn für die weiterführende Schule herrscht freie Schulwahl und so gebe es beispielsweise an der Zeppelin-Realschule eine ganze Klasse mit Schülern, die aus Rielasingen-Worblingen stammen. Umgekehrt gebe es dort aber keinen Raum für die VKL-Schüler aus Singen. Viele ihrer Gesprächspartner hätten gesagt, dass es in ihrer Gemeinde an Räumen fehle. Dieses Argument lässt Ute Seifried aber kaum gelten: „Ein bisschen Kreativität tut da auch gut“, so hätten sie in der größten Not beispielsweise das Foyer der Waldeck-Halle zum Schulraum gemacht.

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Was zählt, ist, dass die Kinder und Jugendlichen überhaupt eine Schule besuchen können: „Es ist einfach ungut, wenn sie so lange warten müssen“, sagt Seifried. Gesetzlich hätte sie bei Flüchtlingen bis zu sechs Monate Zeit, einen Schulplatz zu finden. Doch in dieser Zeit könnten die Betroffenen keine Fortschritte machen.

„Ohne Beschulung wird bei der Integration dieser Kinder und Jugendlichen wertvolle Zeit verschenkt“, mahnt Manfred Hensler als Vorsitzender des Vereins für Integration in Singen. Er hat mit einer Pressemitteilung auf den Missstand der langen Wartezeiten aufmerksam gemacht. Wenn Singen überproportional belastet sei, müsse das irgendwie geregelt werden. „Es braucht die große, faire Lösung“, appelliert er. Wie die aussehen soll, ist allerdings noch unklar.

Um Lehrer kümmert sich das Schulamt, um den Transport die Stadt Singen

Worum es nicht geht, wenn Ute Seifried umliegende Gemeinden um Hilfe bittet, sind die Kosten. Denn um die Lehrkraft kümmert sich das Schulamt und setzt dabei häufig auf Quereinsteiger, wie Stephan Wohlgemuth als Schulrat erklärt: Damit hätte das Schulamt gute Erfahrungen gemacht und eine wissenschaftliche Lehrkraft zu finden, sei nahezu unmöglich. Und um den Transport der Schüler kümmert sich Singen.

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In Hilzingen gibt es eine VKL mit Singener Schülern – aber nur bis zum Sommer

Wie das funktioniert, zeigt sich in Hilzingen: Morgens kommen VKL-Schüler aus Singen an, nachmittags fahren sie wieder. Vor einem Jahr erklärte sich Hilzingen bereit, mit zwei Räumen auszuhelfen. Martin Trinkner leitet die dortige Peter-Thumb-Schule und zeichnet ein zweigeteiltes Bild: Einerseits hätten die Schüler Fortschritte gemacht und sich toll entwickelt. Andererseits ist es in seinen Augen nicht sinnvoll, dauerhaft abseits des Wohnortes zu beschulen. Denn nach dem Unterricht fahren die Kinder wieder nach Singen, weg von ihren neu gewonnenen Bekanntschaften. „Man kann Schule nicht isoliert betrachten“, findet er. Doch in der Notsituation hätten sie gerne ausgeholfen und insgesamt 26 Schülern einen Schulplatz gegeben.

Dass Singener Schüler dauerhaft in einer Umlandgemeinde in die Schule gehen, ist für Ute Seifried denkbar. Aber die Wahrscheinlichkeit, dass Singen demnächst wieder fehlende Räume für eine Vorbereitungsklasse melden wird, ist hoch: In Hilzingen sollen die Schüler aus Singen nur noch bis zum Schuljahresende im Sommer bleiben, weil es eine zeitlich befristete Maßnahme war.