Die Stadt hat sich an große Zahlen gewöhnt und so erscheint der Spatenstich für 73 Mietwohnungen an der Romeiasstraße beim Praxedis-Platz nur als eines von vielen Vorhaben, die in ihrer Summe dem Zentrum von Singen ein neues Gesicht verleihen werden. Tatsächlich aber wird damit nur rund 200 Meter östlich der Großbaustelle für das Verkaufszentrum Cano ein weiteres "Rekordprojekt" angegangen. Diesen Begriff jedenfalls wählte Axel Nieburg als Geschäftsführer der Baugenossenschaft Hegau für das bisher größte Einzelvorhaben in der Unternehmensgeschichte. Es wird eine Länge von 100 Metern aufweisen und nach derzeitigem Stand ein Investitionsvolumen von 18,5 Millionen Euro erfordern.
Wohnen als "Existenz-Gut"
Axel Nieburg nutzte den offiziellen Start des Bauprojekts am Montagnachmittag zugleich zur Erläuterung für die relativ lange Phase zwischen Abbruch des maroden Baubestands vor knapp eineinhalb Jahren sowie den am Montag beginnenden Bauarbeiten. Ziel sei keine Bauweise, bei der die Funktionalität früherer Arbeitersiedlungen nach der Maßgabe "quadratisch, praktisch, gut" im Vordergrund stehe, die Genossenschaft will dem "Existenz-Gut Wohnen" gerecht werden.
Soll heißen, dass es der Bauherrin um Qualität geht. Allein für die Wahl von Betonfertigteilen wurde viel Zeit verwendet. "Eine herkömmliche Putzfassade", sagte Axel Nieburg, "hätte uns sofort handlungsfähig gemacht, aber darunter hätte die Architekturqualität extrem gelitten – der Kick wäre raus gewesen." Eben das aber sollte bei einem Wirtschaftsgut vermieden werden, bei dem von einer Lebenserwartung von 100 Jahren auszugehen sei.
Der Nachhaltigkeit gerecht werden will die Baugenossenschaft auch bei Beheizung der Wohnungen. Der Komplex soll dem Standard eines Passivgebäudes entsprechen, was sich bei den Mietern in vergleichsweise geringen Heizkosten niederschlagen dürfte. Die Baugenossenschaft möchte dabei zugleich bei der Abrechnung neue Wege gehen, bei der die Heizkosten bereits im Mietpreis enthalten sind – Axel Nieburg geht derzeit von einen Mietpreis inklusive Heizkosten von zirka 10,75 Euro aus. Produzieren will man die Wärme über Holz-Pellets, eine eigene Fotovoltaik soll die Eigenversorgung mit Strom übernehmen. "So sind die Praxedis-Gärten so ganz nebenbei auch ein Nullemissionshaus", was für Axel Nieburg Standard für die energetische Zukunft des Wohnens sein sollte.
Trend zu Kleinstwohnungen
Zu den zeitgemäßen Rücksichtnahmen auf das "Existenz-Gut Wohnen" zählt für Axel Nieburg ferner der demografisch bedingte Trend zu kleineren Wohnungen und eine gemischte soziale Bewohnerstruktur. Rund die Hälfte der Mietwohnungen sind als Kleinstwohnungen konzipiert, bei denen die Zweizimmerwohnungen statt der herkömmlichen 55 nur 45 Quadratmeter aufweisen, die Dreizimmerwohnungen von üblichen 75 auf 65 Quadratmeter reduziert werden. Sie seien deshalb für Alleinerziehende, Rentner, junge Paare und Singles besonders geeignet, auch bei den Vierzimmerwohnungen sei man sparsam mit den Wohnflächen umgegangen. Durchgängig für Aufenthaltsqualität aller Wohnungen beitragen werden Balkone beziehungsweise Freisitze sowie Zugänge zum Grünbereich im Hof – hier sollen Bauerngärten in Anlehnung an badische Vorbilder angelegt werden.
Bauzeit von knapp zwei Jahren
Am Ende des offiziellen Starts für das Projekt Praxedis-Gärten blieben nur zwei Wünsche offen. Oberbürgermeister Bernd Häusler wünscht sich eine – politisch verständliche – rasche Fertigstellung der Wohnungen, wird sich damit nach Ansicht von Axel Nieburg aber voraussichtlich bis Anfang 2021 gedulden müssen. Und der Architekt Kai Feseker bittet die Nachbarn um Nachsicht, wenn's in den nächsten Monaten öfters mal laut wird und staubt.
Neue Leichtigkeit
Die Baugenossenschaft Hegau hat das Mietwohnungsprojekt Praxedis-Gärten mehrfach als Mittel für ihre Unternehmensphilosophie genutzt. Beim Kunstprojekt "Arte Romeias" bearbeiteten Künstler die abbruchreifen Gebäude publikumswirksam als Projektionsflächen, der Abbruch wurde dann als Bagger-Ballett inszeniert. Die Aktionen dienten dazu, den Wert des Wohnens und eines neuen, leichteren Lebensgefühls hervorzuheben. Diese Leichtigkeit steht für Axel Nieburg im Kontrast zu den auf reine Funktionalität angelegten Arbeiterwohnungen. (tol)