Jenisch sein – das bedeutete allzu oft Diskriminierung und Ausgrenzung, in der Vergangenheit wie heute. So schildert es Alexander Flügler, der in der Region und darüber hinaus eine Art Galionsfigur der Jenischen ist. Er ist Vorsitzender des Zentralrats der Jenischen und zweiter Vorsitzender des Fördervereins für die Jenischen und andere Reisenden. Beide Vereine hat er mitbegründet. Und er hat eine Mission: Kein Jenischer soll sich mehr verstecken müssen. Alle, die sich selbst als jenisch bezeichnen würden, sollen das auch tun dürfen, ohne Diskriminierung und Ausgrenzung zu befürchten. Singen kann dabei als Hochburg dieser Gruppe gelten. Mit etwa 800 gibt Flügler die Zahl der Zugehörigen dieser Volksgruppe in Singen an, die traditionell vor allem fahrend unterwegs waren.

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Das Mittel dafür: die Anerkennung als Minderheit. Doch dahin ist es ein langer Weg, wie Flügler in den Büroräumen des Zentralrats unter dem Dach seines Hauses in Singen berichtet. In Berlin sei er mit seinem Anliegen zunächst abgeblitzt. Die Jenischen würden nicht alle Merkmale einer Minderheit erfüllen, habe es geheißen. Also wandte sich Flügler an den Europarat. Der habe den Zentralrat der Jenischen nach Berlin eingeladen, wo sie ihre Kultur präsentieren konnten.

Jetzt hat sich der Europarat geäußert

Und der Europarat kommt zu einer klaren Einschätzung: „Der Beratende Ausschuss fordert die Behörden auf, mit den Vertretern der Jenischen in einen Dialog über ihren Antrag auf Anerkennung als nationale Minderheit zu treten“, heißt es in der Stellungnahme des Beratenden Ausschusses zum Rahmenabkommen zum Schutz der nationalen Minderheiten. Im Klartext: Die Anerkennung als Minderheit wird empfohlen. Die Definition der nationalen Minderheit in Deutschland konzentriere sich auf Sprache, Kultur und Geschichte, heißt es darin weiter.

Diese Aspekte würden dem Wunsch der Jenischen entsprechen, ihre Identität, Sprache und Kultur zu bewahren.

Derzeit gibt es laut dem Beratenden Ausschuss vier Gruppen, die in Deutschland den Status als anerkannte Minderheit haben, nämlich Dänen, Friesen, Sorben sowie Sinti und Roma. Für sie gebe es einen „soliden Schutzrahmen“, der weiter ausgebaut worden sei, schreibt das Gremium in seiner fünften Stellungnahme zu Deutschland.

Doch was macht die Jenischen zu einem Volk im eigentlichen Sinne?

Alexander Flügler zählt auf: Unter anderem gebe es eine eigene Sprache, die der Zentralrat in einem deutsch-jenischen Kinderbuch dokumentiert hat. Eigene Spiele, Berufe, die unter den Jenischen traditionell verbreitet waren, und natürlich das Leben „auf der Reis‘“, wie es Flügler formuliert, gehören ebenfalls dazu. Und: „Wir sind Menschen, die sich nicht gerne unterdrücken und bevormunden lassen.“ Die so geliebte Freiheit sei allerdings immer mehr eingeschränkt worden.

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Großes Fest am ersten Juli-Wochenende

Genau das soll auch eine Veranstaltung am ersten Juli-Wochenende zeigen: dass das jenische Volk wirklich ein Volk ist und als eigene Minderheit anerkannt werden sollte. Vom 1. bis 3. Juli findet ein Internationales Jenisches Kulturfest statt – beim Hohenloher Freilandmuseum in Schwäbisch Hall-Wackershofen, das den Jenischen auch eine Dauerausstellung unter dem Titel „Auf der Reis“ widmet. Auf dem Programm stehen unter anderem ein Festakt mit Gästen aus Politik und Gesellschaft, diverse Kunst- und Kulturvorführungen, eine Handwerker-Ausstellung und ein Bootsch-Turnier mit Mannschaften aus vier Ländern. Das Bootschen ist ebenfalls so eine jenische Eigenheit. Es funktioniert ähnlich wie das bekanntere Boule- oder Boccia-Spiel, wird aber mit Steinen statt Kugeln gespielt. 2017 gab es ein ähnliches Kulturfest in Singen.

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In den 1950er- und 1960er-Jahren habe der Staat die Jenischen sesshaft machen wollen, erzählt Alexander Flügler. Das Argument dafür sei gewesen, dass die Kinder in die Schule gehen sollten. „Man hat die Kinder aber nur in Hilfsschulen geschickt“, sagt er. Eigentlich handele es sich dabei um eine vergessene Generation. Auch die Unterbringung in Baracken in Singen in dieser Zeit gehört zu den unangenehmen Erlebnissen der Jenischen. Und: „Wenn man jemandem immer wieder sagt, dass er schlecht sei, dann wird er irgendwann schlecht.“

Nicht alle Jenischen sind sesshaft geworden

Flügler betreibt selbst ein Reinigungsunternehmen und berichtet davon, dass einige Jenische für zehn oder 20 Jahre bei ihm arbeiten. „Es kann funktionieren, wenn man die Mentalität kennt“, sagt er. Nicht alle Jenischen seien sesshaft geworden, viele ziehe es heute wieder in die Wohnwagen, erzählt er. Der Grund sei, dass sie sich bei den Preisen eine Wohnung nicht mehr leisten könnten. „Es sind noch Tausende unterwegs, man weiß bloß nicht, wie viele es sind“, sagt er. Denn viele Jenische geben sich nach wie vor nicht als solche zu erkennen.

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Dagegen will der Zentralrat angehen. Die nächste Generation, die Kinder, soll einmal „gescheite Berufe“ ergreifen können, sagt Flügler. Und für Regina Henke führt der Weg dorthin auch über das Selbstbewusstsein im wörtlichen Sinn. Henke gehört selbst zum Förderverein für die Jenischen und war über ihre Familie und verschiedene andere Vereine mit den Problemen der Jenischen vertraut. Sie sitzt für die Grünen im Singener Gemeinderat und ist Mitarbeiterin im Wahlkreisbüro der Landtagsabgeordneten Dorothea Wehinger, ebenfalls Grüne, die den Wahlkreis Singen in Stuttgart vertritt.

Wer den Jenischen wohlgesonnen ist

Die Jenischen sollten sich ihrer selbst bewusst werden, damit Integration gelingen kann, meint Henke: „Eine Opferhaltung ist nicht gut.“ Wenn man das Selbstbewusstsein verschütte, könne man nicht aus der Opferrolle herausfinden, sagt sie. Und beiderseitiges Misstrauen und wenige Bildungschancen für jenische Kinder seien schon fast Tradition.

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Flügler zählt Wehinger zu den Unterstützern der jenischen Sache. Zahlreiche weitere Personen und Organisationen zählt er als den Jenischen wohlgesonnen auf, unter anderem die Caritas oder Michael Blume, der Antisemitismusbeauftragte der Landesregierung. Doch Integration, das sei ein Prozess, sagt Regina Henke, das könne man nicht einmal machen und dann abschließen.

„Die Jenischen sind Teil dieser Stadt“

Und ein weiterer Punkt steht noch auf der Wunschliste. Flügler möchte gerne ein jenisches Zentrum in Singen einrichten. „1703 waren die ersten Fahrenden in Singen. Die Jenischen sind Teil dieser Stadt“, sagt er. Ein solches Zentrum als Zuhause und Anlaufpunkt, an dem einem geholfen wird: „Das bringt die Menschen weiter“, so Flügler.