Für Singens verstorbenen Ehrenbürger Wilhelm Waibel ist ein Waldstück im schweizerischen Nachbarort Ramsen bis zu seinem Lebensende der „Wald der Menschlichkeit“ geblieben. Der Schüppelwald wurde für viele Menschen im Hegau am Kriegsende zum Zufluchtsort, wie Singens Stadtarchivarin Britta Panzer bei einer Busfahrt erläuterte. Die sollte an den Tag der Befreiung beim Ende es Zweiten Weltkriegs erinnern und stieß auf reges Interesse: Über 80 Menschen aus der Region haben sich auf die besondere Reise begeben und nachvollzogen, was Singener, eine Zwangsarbeiterin und Schweizer erlebt haben.
Ehrenbürger schilderte einen Wald der Menschlichkeit
Panzer zitierte Auszüge aus einem Text von Wilhelm Waibel, der im Kapitel „Der Wald der Menschlichkeit“ im Buch „70 Jahre Theresienkapelle“ erschienen ist. Waibel, der vor gut einem Jahr verstorben ist und die Geschichte der Zwangsarbeiter intensiv erforscht hatte, habe als Elfjähriger am 24. April 1945 in der Schweiz den Begriff „Menschlichkeit“ kennengelernt.
„Hunderten aber bot das Wäldchen zwischen Ramsen und Buch Sicherheit und Rast. Hier habe ich auch das übernationale Wirken und Helfen des Roten Kreuzes zum ersten Mal erlebt, welches uns Flüchtlinge und vor allem uns Kinder mit Kakao und Brötchen beschenkte“, so Waibels Erinnerungen. Der Schüppelwald war damals für ihn zum Wald der Menschlichkeit geworden und es zeitlebens für ihn geblieben.
Dort am Ortsrand von Ramsen las Gemeindepräsident Josef Würms einige Passagen aus einem Buch über den Ort, die der damalige Gemeindeschreiber Fritz Gnädinger verfasst hatte. In Ramsen sei damals „heile Welt“ gewesen, man habe genug zu essen gehabt und auch den Nachbarn jenseits der Grenze selbstverständlich etwas abgegeben.
Und nicht nur mit Essen wurde geholfen: Am Schüppeleck hatte sich damals gegen Kriegsende ein Vorfall ereignet, bei dem ein deutscher Mann ohnmächtig geworden war und schließlich von einem Arzt in Ramsen gerettet worden war.

Die Schüppeleiche mit seinen zwei Holzstelen war für den Singener Heinrich Roess ein ganz besonderer Ort. ‚Ich wurde am 15. September 1944 in Arlen geboren und meine Mutter war damals mit mir als Säugling oft hier‘, erzählt Roess, der inzwischen in der Singener Südstadt wohnt. Seine Frau Christa Roess war begeistert, dass so eine Fahrt angeboten wurde.
Grenzüberschreitende Erinnerung an das Kriegsende
Die Stadtarchive aus Singen und Schaffhausen haben die Busfahrt organisiert, um an den Stationen Theresienkapelle, im Schüppelwald bei Ramsen sowie in Schaffhausen die Geschehnisse kurz vor Kriegsende zu beleuchten. Der Nachmittag stand unter dem Thema „Verfolgung, Zerstörung, Befreiung – Grenzüberschreitende Erinnerungen“.

Gestartet wurde in der Gedenkstätte Theresienkapelle, wo Carmen Scheide als Vorsitzende des Fördervereins Theresienkapelle zunächst darauf einging, warum der Förderverein Menschen die Geschichte vermitteln möchte, die sich hier ereignet hat. „Wenn wir uns historischen Ereignissen über die Biografien von Betroffenen nähern, schaffen wir einen emotionalen Zugang, der eine unmittelbare Auseinandersetzung und Reflektion ermöglicht“, so Carmen Scheide.

Zwangsarbeiterin aus der Ukraine floh aus Singen
Die über 80 Teilnehmer der Fahrt wurden anschließend mitgenommen auf den Fluchtweg der Zwangsarbeiterin Ekaterina Schumanova (Jahrgang 1924). Sie war 1942 aus der Ukraine nach Singen deportiert worden, musste bei den Aluminium-Walzwerken arbeiten und konnte im Herbst 1943 in die Schweiz fliehen. Carmen Scheide las in der Kapelle aus dem Protokoll der Kantonspolizei, die sie nach dem ersten unerlaubten Grenzübertritt befragt hatte.
Nur sonntags hatte die junge Frau damals freien Ausgang und lernte bei dieser Gelegenheit die nahe Schweiz kennen. Mit fünf anderen Mädchen verließ sie am 8. September 1943 ihre Baracke zur Flucht über Rielasingen nach Ramsen/Wiesholz, wo sie sich zunächst zwei Tage im Wald versteckten.
77 Mal gab es irrtümliche Bombenangriffe auf die Schweiz
In Schaffhausen ging es schließlich beim Vortrag von Cyril Schiendorfer um die versehentlich geschehene Bombardierung am 1. April 1944. Diese Bombardierung habe nur 44 Sekunden gedauert, so Schiendorfer. Bereits ab Herbst 1940 war die Schweiz immer wieder von Bombern überflogen worden. Insgesamt habe es in Schaffhausen 544 Mal Fliegeralarm gegeben. Am 1. April kamen Bomber, die in England gestartet waren, in Richtung Schaffhausen – im Glauben, sie wären über Süddeutschland. Sie warfen 400 Bomben auf das Stadtzentrum von Schaffhausen ab.
50 Großbrände, 40 Tote, 120 Verletzte und über 500 Obdachlose gab es und 66 Gebäude wurden zerstört. Darunter war auch die Kunstabteilung des Museums zu Allerheiligen, dessen Restaurierung dann sieben Jahre dauerte. Auch das Naturhistorische Museum auf dem Herrenacker wurde damals schwer getroffen, so Schiendorfer. Insgesamt habe die Schweiz 77 irrtümliche Bombardierungen mit insgesamt 84 Toten erlebt.
Der Schaffhauser Stadtpräsident Peter Neukomm betonte in seiner Begrüßung, dass es heute umso wichtiger werde, dass die europäischen Staaten zusammenrücken. Respekt und Menschenwürde sind alternativlos, so Neukomm. „Frieden ist nicht alles, aber ohne Frieden ist alles nichts“, zitierte er schließlich Willy Brandt.

Auch Singens Oberbürgermeister Bernd Häusler hatte in der Theresienkapelle bereits betont, dass er sich Sorgen mache wegen zunehmender Phantasien bestimmter Diktatoren in Europa. „Solche Entwicklungen müssen verhindert werden“, so Häusler.
„Die Idee zu dieser Veranstaltung beschäftigt mich schon seit Jahren und ich freue mich, dass wir jetzt gemeinsam und grenzüberschreitend dieses tolle Angebot organisieren konnten“, sagte der Singener SPD-Stadtrat Walafried Schrott. Er hatte diese Idee bereits vor fünf Jahren gemeinsam mit Wilhelm Waibel, doch damals konnte sie wegen der Corona-Pandemie nicht realisiert werden.