Nicola Westphal

Herr Sansone, Sie sind an den Rollstuhl gefesselt, trotzdem hadern Sie nicht mit ihrem Schicksal, sondern sind als ehemaliger Rapper, Eventmanager, Leistungssportler und sozial und ehrenamtlich aktiv. Wollen Sie damit Widerstand gegen Ihre Krankheit leisten?

Ich wusste schon als Hosenscheißer, also von klein auf, dass ich die Glasknochenkrankheit habe und mir war schon früh klar, was auf mich zukommen würde. Die Ärzte haben mir dazu geraten, trotzdem „zu leben“. Wenn ein Bruch passiert, wird er geflickt und das Leben geht weiter. Ich habe es immer geliebt, an der Front zu stehen. Ich bin schließlich nicht krank, sondern nur anders. Statt auf zwei Beinen, bewege ich mich auf vier Reifen.

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Sie waren jahrelang als Rapper „Red Dog“ unterwegs. Warum haben Sie damit aufgehört?

Ich wäre gerne Chirurg geworden, das hätte mich echt interessiert, aber okay, das ging nicht. Ich war dann in der Schule irgendwie nicht richtig motiviert und habe acht Jahre durchgezogen. Im Anschluss bin ich bei der Agentur für Arbeit zu einem Berater gegangen, der speziell für Behinderte zuständig war. Der hat mir ernsthaft eine Stelle auf dem Bau angeboten. Ich dachte nur: „Danke für‘s Gespräch“ und bin frustriert nach Hause gerollt. Mir war klar, so komme ich nicht weiter, also wollte ich mich mit irgendwas selbständig machen, wollte was finden, wo ich frei bin. Ich wohne im Singener Süden, im „Ghetto“ und da kam erst die Musik ins Spiel. Also habe ich angefangen Texte zu schreiben. Der damalige Oberbürgermeister Renner hat mich unterstützt und mir einige Türen geöffnet. Es folgten Interviews, Pressetermine und ich habe das 15 Jahre lang durchgezogen und war als Rapper erst im ganzen Landkreis unterwegs, dann irgendwann sogar in ganz Deutschland. Aufgehört habe ich dann, weil ich einfach keine Kraft mehr hatte. Montags bis freitags war ich mein eigener Manager, an den Wochenenden stand ich bis nachts oder sogar frühmorgens auf der Bühne. Ich stand kurz vor dem Burnout.

Sind Sie ganz weg von der Musik?

Nein, nicht ganz. Der Red Dog zahlt noch immer seine Urheberrechte bei der Gema, somit leite ich für den Red Dog seine ganzen soziale Projekte und seine Spendenaktionen.

Sie sind in Italien geboren, leben aber bereits seit 37 Jahren in der Singener Südstadt und haben für die SÖS bei den Kommunalwahlen kandidiert. Was sind Ihre Themen?

Es geht insbesondere um den Einsatz für Senioren und behinderte Menschen. Es war schon immer meine Botschaft: Leute, wenn ich das schaffe, dann kann das doch jeder schaffen, der im Rollstuhl sitzt. Als ich noch unbekannt war, habe ich oft gemerkt, auf wie viele Hürden die Rollstuhlfahrer stoßen. Ich wollte dann meinen Bekanntheitsgrad nutzen und auf die Situation der Rollstuhlfahrer aufmerksam machen. Ich sehe mich als Botschafter und kämpfe auf unterschiedlichen Ebenen für die Barrierefreiheit. Außerdem war es mein Ziel, Begegnungszentren zu schaffen sowie alternative Kultur zu fördern. Ich wusste immer, wo ich anklopfen kann und habe versucht, Politiker darauf hinzuweisen, dass es wichtigere Projekte gibt als beispielsweise ein Einkaufszentrum zu eröffnen.

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Was ist für Sie im Alltag schwierig?

Ich frage mich manchmal, in welchem Jahr wir eigentlich leben. Wir haben das Jahr 2021 und für Behinderte gibt es immer noch normgeregelte Bordsteinkanten, über die wir nicht mit dem Rollstuhl kommen sowie Einkaufszentren und ein öffentliches Nahverkehrsnetz, das nicht barrierefrei gestaltet ist. Wenn ich in eine Bäckerei will oder in einem Restaurant zur Toilette, was mit dem Rolli nicht möglich ist, fühle ich mich diskriminiert. Und das Schlimmste ist, dass ich dann, wenn ich die Betreiber drauf anspreche, sowas höre wie: „Für die paar Rollstuhlfahrer ist mir der Umbau zu aufwändig und zu teuer.“ Da denke ich: Stopp mal! Es gibt Zuschüsse, die du in Anspruch nehmen könntest, aber die werden einfach nicht beantragt. Wahrscheinlich aus Bequemlichkeit, oder weil es sich nicht lohnt.

Wo sehen Sie die meisten Missstände?

Es gibt massig Schulen, Jugendhäuser, Vereinsheime und öffentliche Plätze, die nur unzureichend barrierefrei sind. Von ausreichend rollstuhlgerechten Toiletten mal ganz abgesehen, ist das Busfahren eine Katastrophe. Während in manchen Ländern – wie ich es zum Beispiel in Australien erlebt habe – erst mal die Behinderten in den Bus gelassen werden, steigen hier zuerst alle anderen ein. Um Hilfe musst du sowieso meist aktiv bitten. Und wenn der Bus voll ist, schauen wir in die Röhre. So etwas habe ich auch schon erlebt. Ich glaube, da fehlt es den Menschen einfach an Bewusstsein.

Sie waren sportlich sehr aktiv, haben bei den Paralympics als Basketballer teilgenommen. Wo sehen Sie im Bereich Behindertensport noch Verbesserungsbedarf?

Fast überall! Ich würde mir wünschen, dass alle Vereine in der Gegend jedem Menschen die Möglichkeit geben, am Sport teilzunehmen. Ich war Leistungssportler in der Schweizer Bundesliga und musste zum Training nach Zürich. Und warum? Weil es hier im Umkreis keine entsprechenden Angebote gab. In Deutschland hätte es lediglich in Tübingen und Ravensburg etwas für mich gegeben. Die Fahrt ging um 15 Uhr los, wenn ich um 20 Uhr zum Training in Zürich sein wollte. Für eine Trainingseinheit war ich in der Tat erst um 0.30 Uhr wieder in Singen.

Wie schwer ist es überhaupt für Behinderte, ein Sportangebot ausfindig zu machen?

Ganz schwierig. Ich würde mir eine Übersicht wünschen, die Transparenz schafft, wo und wann Rollstuhlfahrer sich sportlich betätigen können. Aber es gibt ja kaum etwas, nicht mal einen Ort, wo Training für uns stattfindet. Und die Plätze, auf denen man frei trainieren könnte, sind oft in einem erbärmlichen Zustand. Da ist es ganz schwierig, im Gemeinderat etwas auf die Schiene zu bringen.

Sie wirken, als wenn Sie beruflich immer noch auf der Suche sind. Was machen Sie aktuell?

Seit dem Jahr 2019 bin ich Pflegediensthelfer und Betreuungsassistent. Ich könnte also in Pflegeheimen und im Krankenhaus arbeiten. Wahrscheinlich bin ich damit im Landkreis Konstanz der erste Rollstuhlfahrer, der das darf. Bei der ersten Corona-Welle habe ich in der Tat in einem Pflegeheim gearbeitet, wurde dann aber gekündigt, mit der Begründung, „dass ich nicht zum Team passe“. Also habe ich mich neu orientiert. Bei einer privaten Sportschule in Düsseldorf, habe ich mich zum „Spieleranalysten und Scouting“ ausbilden lassen. Damit habe ich mein Hobby wieder zum Beruf gemacht. Nun habe ich mich bei zig Fußballvereinen beworben und hoffe, dass ich einen finde, der mich einstellt. Bisher hieß es oft: Sie haben keine Berufserfahrung oder wie können Sie über dem Rasen rollen? Und das empfinde ich als Diskriminierung, denn wenn mich aufgrund der Behinderung kein Verein einstellt, werde ich auch keine Erfahrung sammeln können. Verrückt, oder? Ich hoffe, dass ich einen Verein finde, der nicht den Rollstuhl sieht, sondern den Menschen Emiddio Sansone.

Fragen: Nicola M. Westphal