Herr Schlagowsky-Molkenthin, Integration wird in der Industriestadt Singen schon seit mehr als 100 Jahren gelebt. Warum wurde ein Konzept erarbeitet?
In Singen findet ein friedliches Nebeneinander von Menschen aus über 100 Nationen statt. Trotzdem gibt es noch zu wenig aktives interkulturelles Miteinander und auch die mangelnde Einbindung von Zugewanderten in politische Prozesse wurden als Handlungsbedarfe erkannt.
Was sind die Gründe dafür?
In den 60er Jahren wurden die Gastarbeiter von Firmen wie auch der Stadt gut begleitet und unterstützt. Man ging davon aus, dass es ein Aufenthalt auf Zeit sein würde und sie später wieder in ihre Heimatländer zurückkehren. Viele sind aber in Singen geblieben. Durch Zuwanderung ist Singen gewachsen und zu einer internationalen Stadt geworden. Heute haben etwa 52 Prozent der Einwohnerinnen einen Migrationshintergrund, was bedeutet, dass mindestens ein Elternteil mit ausländischem Pass geboren wurde.
Wie kann man echtes Miteinander fördern und Einwohner*innen mit Migrationshintergrund noch besser in die Gesellschaft integrieren?
Ein lebendiger Austausch der Zugewanderten und der deutschen Aufnahmegesellschaft erfordert von beiden Seiten ein Interesse an der Kultur des anderen. Das heißt zum Beispiel, dass gemeinsame Veranstaltungen stattfinden, um so in den kulturellen Austausch zu gehen. Bundesweit gibt es jedes Jahr eine Interkulturelle Woche, der Wunsch war aber, dass solche Veranstaltungen dauerhafter stattfinden. Menschen sind angekommen, wenn sie die Geschicke und die Entwicklungen der Stadt mitgestalten, das heißt, auch auf der politischen Ebene.
Seit Beginn der Flüchtlingskrise 2014 sind Sie Integrationsbeauftragter. Was hat sich seither in Singen verändert?
Die Bürger und Bürgerinnen haben mit angepackt, sich ehrenamtlich um die Flüchtlinge gekümmert und setzen sich als Verein inSi (Integration in Singen) noch heute für Zugewanderte mit und ohne Fluchtgeschichte ein. Zeitgleich wurden von Seiten der Stadt schon Ideen für ein Integrations-Konzept gesammelt und in den vergangenen Jahren weiterentwickelt und schrittweise umgesetzt. Schon Anfang 2020 wurde im Alten Zollhaus das Interkulturelle Zentrum als Anlaufstelle eingerichtet und im April 2021 mit Linda Kelmendi als Projektmanagerin für Integration und interkulturelle Aktivitäten zur Umsetzung des Konzeptes eine zweite Vollzeitkraft für die Stabsstelle Integration gefunden. Durch den Ausbruch der Pandemie war eine Eröffnungsfeier des interkulturellen Zentrums bisher noch nicht möglich. Doch da Integration von Begegnung lebt soll die Eröffnungsfeier möglichst bald nachgeholt werden.
Das Konzept beinhaltet die fünf Handlungsbereiche Sprache, Arbeit, Bildung, Wohnen und Interkulturelles Miteinander mit 107 Zielen und 171 Maßnahmen. Wie können diese umgesetzt werden?
Expertinnen aus den fünf Bereichen haben bei Treffen analysiert, dass in Singen vieles gut läuft, aber verbessert werden kann. Koordinierungsgruppen werden über ein Netzwerk die Maßnahmen begleiten. In allen Projekten ist inSi einer der wichtigsten Partner für die Integrationsarbeit der Stadt Singen. Die steigende Mitgliederzahl ist als Erfolg zu werten: Aktuell hat inSi etwa 180 Mitglieder. Über individuelle Begleitungsprozesse hinaus kann inSi die Interessen, Anliegen und Bedarfe der Migrantenorganisationen als Lobby artikulieren und diese an die richtigen Stellen weiterleiten.
Frau Kelmendi, wo sind Verbesserungen am Nötigsten und was ist schon geschafft?
Die Sprachbarriere stellt die größte Hürde dar. Das beginnt in den Kindergärten und setzt sich in der Schule fort. Im Handlungsfeld Sprache versucht die Steuerungsgruppe Deutsch Singen die aktuellen Bedarfe zu erkennen und Lösungen anzubieten. Die Stadt unterstützt zum Beispiel einen Integrationskurs mit Kinderbetreuung, bei dem parallel zum Unterricht die Kinder betreut werden, damit die Mütter am Kurs teilnehmen können. Um die Chancen für Schulabgänger zu verbessern, sollen Kurse berufsbezogenes Deutsch vermitteln. Um die Begleitung von Zuwandererinnen und Geflüchteten in Arbeit und Beruf in guter Abstimmung mit der Agentur für Arbeit, dem Jobcenter, Bildungsträger und den Unternehmen zu verbessern, wurde im Bereich Arbeit unter der Bezeichnung „Singener Allianz“ mit Unterstützung von Klaus Schramm als ehemaligem Leiter der Agentur für Arbeit eine Arbeitsgruppe gebildet. Auch die Einrichtung der zentralen Integrations-Homepage (www.integration-in-singen.de) kann als einer der großen Meilensteine der Stabsstelle Kommunale Integration in Kooperation mit inSi betrachtet werden. Auf der Homepage werden alle Themen der Integration sowie alle daran beteiligten Einrichtungen, Akteure und Projekte übersichtlich dargestellt. Die Homepage wird fortlaufend aktualisiert und vervollständigt.
Und Herr Schlagowsky-Molkenthin, was steht als nächstes an?
In den Handlungsfeldern Bildung, Wohnen und Interkulturelles Miteinander erarbeiten wir in jeweiligen Arbeitskreisen die Priorisierung der Ziele: Wir können nicht alles gleichzeitig machen und wir müssen personelle und finanzielle Ressourcen gut im Blick haben. Ein besonders schwieriges Thema ist die Wohnsituation. Die kann man nicht allein auf Singen beziehen. Um bezahlbaren Wohnraum zu ermöglichen, ist es nötig, auf Kreisebene miteinander zu reden. Außerdem arbeiten die Stabsstelle Kommunale Integration und inSi in Unterstützung des Forums der Kulturen Stuttgart an dem Projekt „Migrantenorganisationen stärken und vernetzen“. Dieses hat das Ziel, die rund 40 in Singen aktiven Migrantenorganisationen untereinander zu vernetzen und sie durch Selbst-Empowerment als Mitwirkende in der Stadtgesellschaft stärker sichtbar zu machen. Im Herbst sollen am „Interkulturellen Netzwerktag“ alle interessierten Migrantenorganisationen zusammenkommen, um über die Gründung eines interkulturellen Netzwerkes zu diskutieren. Auch entsteht momentan in Singen ein „Forum der Religionen“, das die Menschen aller in Singen vertretenen Religionen durch unterschiedliche Projekte in Austausch bringen kann.
Zu Projekt und Personen
- Die Dienststelle: Neu ist das Thema Integration nicht in Singen: Integration prägt seit mehr als 100 Jahren die Industriestadt. Doch im Zuge der Flüchtlingskrise 2015 wurde das Thema immer drängender. Schon Anfang 2020 wurde im Alten Zollhaus das Interkulturelle Zentrum als Anlaufstelle zur Umsetzung des Konzeptes Integration in der Hegaustraße 42 geschaffen. Das Alte Zollhaus ist so zum Treffpunkt der Integrationsarbeit sowohl für Helferkreis als auch für Neubürger in der Stadt geworden.
- Der Beauftragte: Stephan Schlagowsky-Molkenthin ist seit Oktober 2014 Integrationsbeauftragter der Stadt Singen. Die Stelle war zunächst auf drei Jahre befristet und wurde durch Fördergelder vom Land bezuschusst. Als Ziele der Integrationsarbeit formuliert er, angstfrei miteinander zu leben und voneinander zu lernen, ohne dass jemand seine kulturelle Identität aufgeben muss. Der 54-Jährige war vor seinem Start in Singen bei der Volkshochschule Tuttlingen unter anderem für die Deutschkurse von Neuankömmlingen zuständig.
- Die Projektentwicklerin: Linda Kelmendi ist als neue Fachkraft in der Stabsstelle Integration eingestellt. Ihre Aufgabe ist die Entwicklung von Projekten und Initiativen, die die strategische Ausrichtung der Integrationsarbeit durch konkrete Praxisangebote nachhaltig verankern. Die 28-Jährige ist Ansprech- und Projektpartnerin für internationale Vereine und alle haupt- und ehrenamtlichen Akteure im Integrationsbereich.
Mehr Info zum Thema im Internet unter http://www.integration-in-singen.de