Die Grundwerte der Gesellschaft stehen seit einiger Zeit deutlich unter Druck. Dabei feiert Deutschland am 23. Mai das 75-jährige Bestehen des Grundgesetzes ganz offiziell. Landtagspräsidentin Muhterem Aras, die auf Einladung der Volkshochschule und der Landtagsabgeordneten Dorothea Wehinger (Grüne) im Singener Bürgersaal sprach, bezeichnet das Grundgesetz gern als Hausordnung.
Stephan Kühnle, Programmleiter bei der VHS, stellte die Stuttgarterin mit türkischen Wurzeln als Ordnungshüterin des Parlaments vor, denn seit 2016 wirkt sie als Präsidentin des Stuttgarter Parlaments. Vor ihrem Auftritt im Singener Bürgersaal war Muhterem Aras bereits den ganzen Tag mit der Landtagsabgeordneten Dorothea Wehinger im Landkreis unterwegs und besuchte eine Schule in Stockach sowie die Firma Wefa in Singen.
Aus einem Notbau wird ein gutes Haus
„Ich fühle mich wohl hier in diesem schönen Saal“, sagte Muhterem Aras zu Beginn ihres Impulsvortrags. Dann kam sie gleich auf die Geschichte des Grundgesetzes, dass in seinen fast 75 Jahren viele Bezeichnungen hatte, darunter „Notbehelf“, „Organisationsstatut“ oder „Dokument der Freiheit“. Der 1979 83-jährig verstorbene SPD-Politiker Carlo Schmid habe nicht nur das Grundgesetz, sondern auch die baden-württembergische Landesverfassung mit geprägt. „Er nannte die Bonner Republik damals einen Notbau. Dieser Notbau, den der parlamentarische Rat Artikel für Artikel errichtet hat, ist ein gutes Haus geworden, und zwar für alle Deutschen“, so Aras in Singen. Die Vision der Väter und Mütter des Grundgesetzes und das damit verbundene Streben nach Demokratie waren stärker, als die letzten übrigen Nazis, die diesem Regime nachtrauerten. Darüber hinaus hätten auch die Emanzipationsbewegung und die Gastarbeiterinnen und Gastarbeiter die Republik maßgeblich verändert.
Der ehemalige Bundespräsident Joachim Gauck – der im Übrigen bei einer Festveranstaltung in Stuttgart am 8. Mai sprechen werde – hatte mal von einem „Demokratiewunder“ gesprochen, zitierte Aras. „Ja, es grenzt an ein Wunder, nur dass es menschengemacht ist“, sagte sie. Mittlerweile seien die Deutschen „heimisch geworden in den Artikeln des Grundgesetzes“. Doch „noch nie in den 75 Jahren der Bundesrepublik war unsere Demokratie dermaßen bedroht wie jetzt“, so Aras. „Es liegt etwas Historisches in der Luft, da braut sich was zusammen. Können wir es abwenden?“ fragte Aras und bekräftigte: „Wir können. Aber dafür müssen wir uns ehrlich machen und gefasst“. Spätestens seit den Correctiv-Berichten sei vielen bewusst geworden, dass Rechtsextremismus die größte Gefahr für die Gesellschaft darstelle. Dabei gäben sich die Rechtsextremen nicht erst seither zu erkennen. Das beschönigende Wort „Remigration“ habe bereits in den Wahlprogrammen einer Partei gestanden, die der Verfassungsschutz teilweise als gesichert rechtsextrem bezeichne.
Hass und Hetze als Hinderungsgrund für politisches Engagement
Die Bedrohung der Demokratie und auch die Verletzung der Menschenwürde beginnen für Aras bereits mit der Sprache. Sie brachte einige Beispiele, wie die Rechten verbal lügen, verleumden, diffamieren und schließlich drohen würden. So habe ein demokratiefeindlicher Abgeordneter in Brandenburg kürzlich gesagt, wenn seine Leute an die Macht kämen, müssten sie als Erstes den Parteienstaat abschaffen. „Das ist ein direkter Angriff auf unsere parlamentarische Demokratie“, so Aras. Mittlerweile hätte verbale und tätliche Gewalt gegen Personen in der Öffentlichkeit stark zugenommen. Deshalb würden sich immer weniger Menschen, besonders auf kommunaler Ebene, in die Politik trauen.

Deshalb „sind die Demonstrationen von Millionen von Menschen dieser Tage so unfassbar wichtig und sie machen unfassbaren Mut“, sagte Aras. Hier erlebe man im wahrsten Sinne eine Demonstration der Demokratie. Leider würden noch nicht alle die Signale hören und es reiche auch nicht, von einer Brandmauer zu reden, womit sie auf eine Aussage des bayerischen Ministerpräsidenten anspielte, der Bundesministerin Steffi Lemke mit Margot Honecker, Bildungsministerin der ehemaligen DDR, verglichen hatte. „Wir brauchen endlich eine intakte Brandmauer, mehr denn je“, so Aras.
Aras‘ Appell: Holt die Menschen zurück in die Mitte
Sie appellierte, sich mit Menschen auszutauschen und zu versuchen, Mitbürger in die demokratische Mitte zurückzuholen, auch wenn dies ein langer, mühsamer Dialog ist. „Ich bin überzeugt, dass man rechtsextreme Wähler durch aufsuchende Dialoge wieder zurück in die Mitte holen kann.“ Außerdem müsse man klare Kante gegen Hass, Rassismus, Antisemitismus und jede Art der Ausgrenzung zeigen: „Nutzen Sie die Möglichkeiten, sich zu engagieren und gehen Sie am 9. Juni zur Wahlurne und zeigen Sie den Demokratiefeinden die rote Karte“, appellierte sie.

„Diese Rede wird mal als Brandrede von Singen in die Geschichte eingehen“, zeigte sich VHS-Vertreter Stephan Kühnle überzeugt. Er wollte von Muhterem Aras wissen, ob sie sich in ihrer Funktion als Landtagspräsidentin nicht auch als Schiedsrichterin sehe. „Mein Anspruch ist, dass man anständig miteinander umgeht“, sagte sie. Falls nötig, müsse sie auch mal eingreifen. „Ich habe aber von Anfang an klargestellt, dass ich in dieser Position parteiübergreifend arbeite“. In der Diskussion kamen von Seiten der Zuhörer sehr viele Beiträge, zum Beispiel, wie man Hass und Hetze in Social Media Einhalt gebieten könne. Sorge macht einigen auch die Tatsache, dass jüngere Menschen mit Migrationshintergrund bei Demos oft sehr wenig vertreten sind. Ein großer Fehler in der Vergangenheit sei gewesen, dass Deutschland sich Jahrzehnte nicht als Einwanderungsland gesehen habe, so Aras. Auch den islamischen Religionsunterricht habe man in Deutschland sehr lange nur den Moscheen überlassen.
Unzufriedenheit mit der Ampel-Koalition wurde auch am Rande angesprochen. „Manchmal wünsche ich mir, dass da mal jemand durchgreift“, versuchte sie es, diplomatisch auszudrücken.
Greueltaten der Nazis auch in Singen
Bevor Muhterem Aras ihren Impulsvortrag hielt, blickte der Historiker Axel Huber, der in Vertretung von Oberbürgermeister Bernd Häusler sprach, insbesondere auf die Greueltaten der Nazis in Singen. Vom am 14. Juli 1933 erlassenen Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses, das die Zwangssterilisierung erblich kranker Menschen vorsah und dem am 18. Oktober 1935 erlassenen Gesetz zum Schutze der Erbgesundheit des deutschen Volkes seien auch in Singen über 150 Menschen betroffen gewesen. Manche Menschen würden heute noch sagen, es sei nicht alles schlimm gewesen in der Nazizeit. Dem widerspricht Axel Huber jedoch vehement: „Doch, es war alles schlimm, denn ab dem 30. Januar 1933 wurden Juden und Kommunisten übel verfolgt“. Auf der Basis dieser Gewalterfahrungen sei schließlich das Grundgesetz geschaffen worden, das mit seinem ersten Artikel „Die Würde des Menschen ist unantastbar“ beginnt.