Wenn keine Menschen mit Migrationshintergrund mehr da wären, dann wäre es ziemlich leer – so schilderte Klaus Mühlherr, Kreisvorsitzender des DGB, sinngemäß, was in Singen ohne Migration los wäre. Nämlich nicht mehr viel. Der Ausspruch fiel bei der Demonstration gegen Hass und Hetze Ende Januar, zu der etwa 4000 Menschen in die Singener Innenstadt kamen.

Das ist eine Einschätzung, die Zahlen der Stadtverwaltung untermauern. 56 Prozent der Singener haben einen Migrationshintergrund, in der Kernstadt ohne die Ortsteile sind es sogar 60 Prozent. Etwa 29 Prozent der Singener haben keinen deutschen Pass, das sind etwa 14.500 Personen. Etwas weniger als die Hälfte davon, nämlich 6900, haben die Staatsangehörigkeit eines EU-Landes, etwas mehr als 7600 die eines anderen Landes. Das geht aus den Zahlen hervor, die der städtische Integrationsbeauftragte Stefan Schlagowsky-Molkenthin bereithält.

SÜDKURIER will Lebenswege beleuchten

Doch hinter all diesen Zahlen und Statistiken stehen Lebenswege. Der SÜDKURIER möchte einige dieser Lebenswege vorstellen. In der Serie „Mit 80 Menschen um die Welt“ sollen Menschen zu Wort kommen, die aus dem Ausland nach Singen gekommen sind. Wir zeichnen nach, wie sie in der Stadt unterm Hohentwiel gelandet sind, stellen vor, wie ihr Leben verläuft, wie sie hier eine Heimat gefunden haben – und auch, wenn sie mit dem Leben in Deutschland hadern.

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Der Titel der Serie ist an Jules Vernes Roman „In 80 Tagen um die Welt“ von 1873 angelehnt. Darin geht es um den Engländer Phileas Fogg, der nach einer Wette in der rekordverdächtigen Zeit von 80 Tagen den Erdball umrundet. Eine Gemeinsamkeit zwischen dem Roman und der Migration nach Singen ist die Ursprungszeit.

Singen wurde im Jahr 1863 an die Eisenbahn angeschlossen, zunächst an die Hochrheinstrecke, später auch an Schwarzwald- und Gäubahn. „Der Bahnbau war geprägt von italienischen Gleisarbeitern“, sagt Bernhard Grunewald, Vorsitzender des Vereins Integration in Singen (Insi). Doch es habe in Singen auch Gewaltmigration gegeben, etwa von Zwangsarbeitern oder Kriegsgefangenen.

„Das kulturelle Miteinander funktioniert.“ Bernhard Grunewald, Vorsitzender des Vereins „Integration in Singen“ (InSi)
„Das kulturelle Miteinander funktioniert.“ Bernhard Grunewald, Vorsitzender des Vereins „Integration in Singen“ (InSi) | Bild: Freißmann, Stephan

Von Arbeitsmigration haben alle profitiert

Und auch Grunewald hat Zahlen parat. Zwischen 1899, als Singen die Stadtrechte erhielt, und 1975 sei die Stadt um 1600 Prozent gewachsen, sagt er: „Das war in dieser Zeit die am schnellsten wachsende Gemeinde Deutschlands.“ Hintergrund war die Ansiedlung der bis heute prägenden Industriebetriebe wie Maggi, Georg Fischer – heute Fondium – und der Alu, auf deren Gelände heute mehrere Aluminium-verarbeitende Unternehmen angesiedelt sind.

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Die Unternehmen lockten auch viele Menschen aus dem Ausland an, die als Arbeitsmigranten in die Stadt kamen. Und gerade seit dem Anwerbeabkommen für sogenannte Gastarbeiter aus Italien aus dem Jahr 1955 habe Singen von der Zuwanderung eigentlich nur profitiert, so Grunewald. Es war das erste einer Reihe von Abkommen, die dazu dienen sollten, genügend Arbeitskräfte für das Wirtschaftswunder zu haben.

„Die Bedeutung der Erwerbstätigkeit zugewanderter Menschen kann gerade in Singen nicht hoch genug eingeschätzt werden“ Stefan ...
„Die Bedeutung der Erwerbstätigkeit zugewanderter Menschen kann gerade in Singen nicht hoch genug eingeschätzt werden“ Stefan Schlagowsky-Molkenthin, Integrationsbeauftragter der Stadt Singen | Bild: Susanne Gehrmann-Röhm

Ähnlich sieht es der Integrationsbeauftragte Schlagowsky-Molkenthin: „Die Bedeutung der Erwerbstätigkeit zugewanderter Menschen kann gerade in Singen nicht hoch genug eingeschätzt werden“, schreibt er. Gerade die internationalen Belegschaften „im intensiven Schichtrhythmus“ in der Industrie seien ein Grund für Singener Standortvorteile. Auch im Gesundheitssektor gebe es viele Beschäftigte mit Migrationshintergrund, außerdem unter anderem Gastronomie, Baugewerbe oder Friseur- und Kosmetikbetriebe.

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Bernhard Grunewald kommt daher zu dem Schluss: „Das kulturelle Miteinander funktioniert.“ Doch auch ihm ist klar, dass nicht alles eitel Sonnenschein ist. Durch das rasche Wachstum hätten soziale Bindungen mitunter nicht entstehen können. Und bei aller Wertschöpfung durch Menschen mit Migrationshintergrund könnte die Wertschätzung größer sein, ist seine Haltung. Menschen mit Migrationshintergrund sind zum Beispiel kaum in den politischen Gremien der Stadt repräsentiert.

Stimmt die politische Repräsentation?

Ob sich das nach der Kommunalwahl am Sonntag, 9. Juni, ändert, ist schwer zu sagen. Grunewald beobachtet wachsendes Interesse von Menschen mit Migrationshintergrund an politischer Teilhabe. Zur Erinnerung: Menschen mit deutscher Staatsbürgerschaft oder mit einer Staatsbürgerschaft der Europäischen Union ab 16 Jahren dürfen bei der Kommunalwahl wählen – und auch selbst kandidieren.

Eine klare Aussage darüber, wie viele Kandidaten mit Migrationshintergrund antreten, ist anhand der vorliegenden Daten aber kaum möglich. Die Staatsbürgerschaften der Kandidaten werden nicht veröffentlicht. Unabhängig davon ist Migrationshintergrund so definiert, dass man selbst oder mindestens ein Elternteil nicht mit deutscher Staatsbürgerschaft geboren ist. Die derzeitige Staatsbürgerschaft sagt also vergleichsweise wenig aus.

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Ängste sind größer, als die Statistik es hergibt

Doch gibt es Gruppen, an die man nur schwer herankommt? Eine aufsehenerregende Massenschlägerei zwischen syrischen Großfamilien ist erst wenige Jahre her. Grunewald leugnet nicht, dass schlimme Straftaten verübt worden seien. Doch die Täter wurden verurteilt. Bei der Kriminalstatistik, die für den Bereich des Polizeipräsidiums Konstanz 2023 etwa 40 Prozent Tatverdächtige mit nicht-deutscher Staatsbürgerschaft ausweist, relativiert er. Erst vor Gericht erweise sich, ob ein Verdächtiger wirklich ein Täter sei. „Wir erleben keine tägliche Gewalt auf den Straßen.“

Ein nennenswerter Anteil an Tatverdächtigen mit nicht-deutscher Staatsbürgerschaft lebe nicht in Deutschland, sondern komme ins Land, um Straftaten zu begehen – laut Bundeszentrale für politische Bildung traf das im Jahr 2019 auf etwa zwölf Prozent der Tatverdächtigen mit nicht-deutscher Staatsbürgerschaft zu.

Viele grenzen sich von Gewalt ab

Das Singener Polizeirevier gibt zum Thema die folgende Einschätzung ab: Die Sicherheitslage in der Stadt habe sich in den vergangenen Jahren recht positiv entwickelt, das Niveau von vor der Corona-Pandemie sei noch nicht wieder erreicht. „Dennoch scheinen die Ängste und subjektiven Wahrnehmungen der Bürger größer, als man aus der Kriminalstatistik ableiten kann„, heißt es in der Stellungnahme weiter. Die Polizei wolle in jedem Fall die Sicherheit gewährleisten, gemeinsam mit der Stadtverwaltung.

Themen wie Massenschlägereien bezeichnet Grunewald als Baustelle. Mittlerweile gebe es ein Programm für kommunales Konfliktmanagement. Außerdem seien viele Konflikte, wie auch in diesem Fall, noch im Heimatland entstanden. Insi will aber nicht aufgeben: „Auch wenn nicht alle Engel sind, die herkommen, suchen wir den Kontakt zu allen, die sich von diesen Familienstreitigkeiten abgrenzen.“ Davon gebe es einige.