Akten fehlen in dem Büro noch, doch das ist auch kein Wunder: Es ist erst der zweite Arbeitstag von Anke Baumeister am Amtsgericht in Singen. Seit 18. Januar ist sie dort nicht nur Richterin, sondern auch ständige Vertreterin des Direktors Johannes Daun. In ihrer ersten Arbeitswoche will sie die ersten Verhandlungstermine festlegen, die dann in drei bis vier Wochen stattfinden sollen. Bis dahin will sie sich einarbeiten – das dauere manchmal länger als eine Verhandlung. Da müssen Rentenansprüche berechnet, Umgang und Unterhalt geprüft werden, wie sie erklärt. Anke Baumeister ist Expertin für Familienrecht und hat dabei ein großes Ziel: „Mein Anliegen ist, dass Kinder möglichst heil aus dem Schlamassel kommen. Und dass Eltern sich weiter in die Augen gucken können.“
Vor zehn Jahren waren Übernachtungen beim Vater noch ein Thema
Natürlich könne sie als Richterin keine Wunder bewirken, aber vielleicht zu einer Verbesserung der Situation beitragen. Familienrecht sei dabei anders als Strafrecht. Bei einer Straftat gehe es darum, ob sie einem Menschen nachgewiesen werden kann und er dafür zu einer Strafe verurteilt wird. „Bei Familiensachen geht es darum, Lösungen zu finden.“ Diese Lösungen haben sich in den vergangenen Jahren teilweise verändert: „Vor zehn Jahren haben wir noch überlegt, ab wann ein Kind bei seinem Vater übernachten darf“, erinnert sich Baumeister. Heute hätten die Eltern eine anderer Rollenverteilung, seit zwei bis drei Jahren werde beispielsweise das Wechselmodell häufiger vorgeschlagen. Dabei übernehmen beide Eltern zu gleichen Teilen die Erziehung und Betreuung eines Kindes.
Manche Fälle seien auch für sie als Richterin besonders herausfordernd, wenn Kinder beispielsweise ihren Eltern entzogen werden müssten. „Manchmal habe ich dann abends schon Gesprächsbedarf“, sagt die 56-Jährige. Doch wie immer müsse man für einen professionellen Umgang auch einen gewissen Abstand wahren. „Ich kann gut schlafen“, erklärt sie und man kann hinter der Maske ein Lächeln vermuten.
Singen als spannende Herausforderung – und Beförderung
Der berufliche Weg führte Anke Baumeister vom Studium in Berlin zum Referendariat nach Tübingen. Von dort wechselte sie erst ans Amtsgericht Hechingen und dann nach Rottenburg, wo sie das Amtsgericht leitete. Auch einige Monate am Oberlandesgericht Stuttgart gehören zu ihrem Lebenslauf. Zuletzt war sie in Überlingen die ständige Vertreterin des Direktors am Amtsgericht. „Singen ist für mich ein weiterer Schritt. Es ist größer und eine spannende Herausforderung, auf die ich mich freue“, erklärt sie im Gespräch.
Ihr Vorgänger Götz Walter hatte das Amt seit April 2006 inne und verabschiedete sich Ende November in den Ruhestand, wie Amtsgericht-Direktor Johannes Daun mitteilt. Er hat Anke Baumeister demnach herzlich in Singen willkommen geheißen, nachdem sie am Montagvormittag in Konstanz ihre Ernennungsurkunde von Christoph Reichert, Präsident des Landgerichts, erhielt.
Baumeister wird in Singen auch Betreuungsfälle verhandeln. Darunter versteht man solche Fälle, wenn ein Mensch seine persönlichen Angelegenheiten nicht mehr übernehmen kann, wie sie erklärt. Auch den ein oder anderen Straffall werde sie voraussichtlich übernehmen.
Auch Richter erleben weniger Autorität: Warum der Wohnort privat bleiben soll
Die 56-Jährige ist verheiratet, hat eine erwachsene Tochter und wohnt im Raum Überlingen. Den genauen Wohnort verrät sie ungern – und kann das begründen: Die Rolle von Richtern habe sich in den vergangenen Jahren gewandelt. Denn dass Polizisten, Rettungskräfte oder Feuerwehrleute von weniger Respekt bei ihren Einsätzen berichten, wundere sie nicht: Auch sie selbst beobachte diese Entwicklung. „Wir merken, dass auch die Autorität eines Richters verstärkt in Frage gestellt wird.“ Das beginne damit, dass sie immer wieder Menschen ermahnen müsse, im Gerichtssaal die Kappe abzunehmen. Doch es komme auch mal vor, dass eine unzufriedene Prozessbeteiligte sie verklage oder dass sie eine Mail mit Beschimpfungen erhalte. „Es gibt wenige, die da Grenzen überschreiten. Deshalb ist es vielen Menschen in der Justiz ein Anliegen, dass Menschen nicht ihre private Adresse erfahren.“
Erst einmal sei es ihr aber ein Anliegen, Singen und die Kollegen im Amtsgericht besser kennenzulernen. „Ich versuche gerade, 60 Namen zu lernen, doch Corona macht das nicht ganz einfach“, schildert sie mit einem Lachen. Denn spontan mal einen Kaffee trinken zu gehen, sei nicht möglich. Und der Mund-Nasenschutz mache das Wiedererkennen etwas schwerer als sonst.