Herr Ammon, mit großem Engagement setzen Sie sich als Botschafter für Barrierefreiheit des Landesverbands Selbsthilfe Körperbehinderter und als Behindertenbeauftragter des Landkreises für behinderte Menschen ein. Welche Situationen ärgern Sie am meisten?
Ich denke, dazu ist es erst einmal wichtig, zu erklären oder zu definieren, was überhaupt Behinderung heißt. Behinderungen können vielfältig sein: körperliche Behinderung, Sinnesbehinderung wie Blindheit, Gehörlosigkeit, Schwerhörigkeit und Taubblindheit, Sprachbehinderung, sowie psychische und mentale Behinderung. Eines haben all diese Menschen gemeinsam: Ihr Alltag ist mehr oder weniger eingeschränkt, beziehungsweise bedarf manchmal einer besonderen Ausstattung oder Hilfsmitteln, um einen normalen Alltag zu ermöglichen. Und ich kann gar nicht sagen, was mich am meisten ärgert, sondern nenne lieber ein Beispiel, bei dem es wichtig war, mich in der Funktion als Behindertenbeauftragter des Landkreises Konstanz einzusetzen. Das Thema Reisen: Manche Bahnhöfe sind nicht nur für Menschen mit Handicap unakzeptabel, sondern auch für Familien mit Kinderwagen und ältere Mitbürger, weil es keine Aufzüge gibt und ein Gleiswechsel somit nur bedingt möglich ist.
Sie hatten bereits im Jahr 2021 im Rathaus Singen eine zweitätige Veranstaltung für eine barrierefreie Verkehrsraumgestaltung auf den Weg gebracht und sind damit zum Vorreiter im Land geworden.
Richtig, das Thema Barrierefreiheit ist äußerst wichtig. Über 40 Personen folgten letztes Jahr meiner Einladung zum Projekt „Barrierefreie Verkehrsraumgestaltung“ und Oberbürgermeister Bernd Häusler, Schirmherr der Tagung sowie Dorothea Wehinger MdL betonten, dass ihnen Inklusion und Barrierefreiheit seit Jahren am Herzen liegen. Neben den Behindertenbeauftragten aus Singen, aus dem Landkreis Konstanz und Fachleuten der Stadtplanung nahmen auch Bürgermeister teil, teils sogar aus Städten und Gemeinden über den Landkreis Konstanz hinaus. Der Referent der Tagung, Herr Dietmar Böhringer, der weit über Deutschland hinaus bekannte „Guru“ für barrierefreies Gestalten, verlieh der Großen Kreisstadt Singen/Hohentwiel das Prädikat eines Musterbeispiels für „Barrierefreie Verkehrsraumgestaltung im Landkreis Konstanz“. Ein besseres Lob gibt es nicht!
Der demografische Wandel bringt mit sich, dass die Anzahl der mobilitäts- und aktivitätseingeschränkten Menschen mehr und mehr zunimmt. In welchen Bereichen gibt es Ihrer Erfahrung nach den größten Verbesserungsbedarf?
Im Bereich Nahverkehr hat sich mittlerweile schon einiges getan, aber bei Sport- und Freizeiteinrichtungen gibt es hier und da noch größeren Verbesserungsbedarf. Das haben nicht zuletzt die Ergebnisse meiner Schwimmbadtour im Landkreis gezeigt. Im dem nach dem Brand neu wieder aufgebauten Schwaketenbad in Konstanz ist die Umsetzung hervorragend gelungen, das ist ohne Hindernisse oder Stolperkanten wirklich ein Vorzeige-Bad. Eigentlich ist man in allen Städten und Kommunen im Landkreis auf dem richtigen Weg bezüglich Barrierefreiheit. Dafür möchte ich mich an dieser Stelle bei allen Bürgermeistern und meiner Bürgermeisterin in Büsingen herzlich bedanken. Manchmal sind es schon Kleinigkeiten, die helfen, wie zum Beispiel einen Handlauf anzubringen. Ziel ist, dass zukünftig alle öffentlichen Bauten so ausgestattet werden, dass sie jedem zugänglich sind.

Wäre es nicht sinnvoll, generell in alle baulichen Planungsgremien mobilitätseingeschränkte Menschen als Berater einzusetzen?
So sollte es im Idealfall sein. Eigentlich wird das in den Städten und den Gemeinden des Landkreises ohnehin schon gemacht, denn es gibt auch Behindertenbeauftragte vor Ort, wie beispielsweise in Konstanz und Singen. Man zieht mich als Behindertenbeauftragen in der Regel beratend dazu. Manchmal kann man viel Kosten sparen, wenn man von vornherein bauliche Aspekte berücksichtigt, anstatt teuer nachzubessern. Und ich kann wirklich sagen, dass ich bei allen Bürgermeistern im Landkreis bezüglich Barrierefreiheit auf offene Ohren stoße und kann mich nicht beklagen.
Wäre es nicht sogar sinnvoll, das Hinzuziehen eines Behindertenbeauftragten gesetzlich zu verankern?
In Baden-Württemberg ist das bereits der Fall. Alle Landkreise in BW müssen einen hauptamtlich oder ehrenamtlich tätigen Behindertenbeauftragten installieren. Ich bin ehrenamtlich tätig. Der Weg für ein inklusives Leben in Baden-Württemberg ist somit in unserem L-BGG, dem Landes-Behindertengleichstellungsgesetz, nachzulesen.
Was konnten Sie bisher mit Ihrem Projekt „Zukunft Barrierefreiheit 4.0“, das vom Landesministerium für Soziales und Integration gefördert wird, erreichen?
Spontan fällt mir das Projekt „Toiletten für alle in Baden-Württemberg“ des Ministeriums für Soziales, Gesundheit und Integration ein. Bei den Bädern vor Ort arbeiten wir mit Hochdruck, um sie auf den Stand 4.0 zu bringen. Gerade viele ältere Menschen benötigen die Barrierefreiheit in Bädern, Sportstätten oder sogar um einen Kindergarten betreten zu können, wenn sie ihre Enkel morgens hinbringen. Manche Realisation hakt noch an der Finanzierung, aber wir sind auf einem guten Weg.

Sie werden am 25. April 70 Jahre alt. Zeit eine Zwischenbilanz zu ziehen?
Vor nunmehr 23 Jahren hatte ich meinen Schlaganfall und bin seitdem rechts halbseitig gelähmt. Nachdem ich zunächst nicht mehr sprechen, mich also in keiner Weise verbal artikulieren konnte, traten meiner Frau, als sie mich im Krankenhaus erstmals nach dem Schlaganfall sah, die Tränen in die Augen. Da wusste ich, dass ich für uns beide und meine beiden Kinder kämpfen musste. Zudem hing mein Krankenzimmer während meines Reha-Aufenthalts in Gailingen voller Bilder, die mir meine Schüler vorbeigebracht oder geschickt hatten. Als ich nach Monaten wieder mit dem Schuldienst anfing, wurde ich so herzlich begrüßt, dass das für mich Motivation pur war, weiterzumachen. Aufzugeben, war für mich nie eine Option. Ich hatte vor dem Schlaganfall und jetzt ein schönes Leben, bei dem mich stets die Aussagen von zwei Persönlichkeiten geleitet haben. Einmal ist es die Weisheit des griechische Philosophen Aristoteles: „Das Geheimnis des Könnens liegt im Wollen.“ Die zweite Weisheit stammt von Mark Twain, der sagte: „Das Geheimnis des Erfolgs ist anzufangen“. Diese beiden Herren sind die mentalen Vorbilder für mich. Ein „geht nicht“, gibt es daher nicht für mich. Ich kann alles erreichen, wenn ich anfange und wenn ich will. Dieser Glaube hat mir ein mehr oder minder normales Leben mit viel Lebensfreude geschenkt.

Welche Ziele haben Sie für die nächsten Jahre, was haben Sie sich vorgenommen?
Ich möchte weiterhin Sport betreiben, denn sich regelmäßig zu bewegen, ist das A und O für jedermann, um fit zu bleiben. Ich mache seit meiner Kindheit wieder Sport und wurde im Jahr 2019 letztmalig – aufgrund von Corona – Deutscher Meister in der IDM Para Leichtathletik in Singen in meiner Alters- und Schadenklasse im Kugelstoß und Diskuswurf aus dem Rollstuhl. Diese Titel möchte ich bei den IDM Para Leichtathletik am 18. Juni in Regensburg verteidigen. Und ich möchte noch viel dazu beitragen Menschen mit Handicap zu zeigen, dass das Leben funktioniert – vielleicht nicht wie gewohnt, aber anders. Wichtig ist, dass sie keine Ängste haben, sich nicht aufgeben, sondern immer positiv denken und dann sehen sie: Es geht doch! Wenn mir das gelingt, dann bin ich glücklich.