Etwa 9000 Menschen finden derzeit in Singens Industriebetrieben Lohn und Brot. Das entspricht 34,6 Prozent der sozialversicherungspflichtigen Arbeitsplätze in der Stadt. Und auch für die städtischen Finanzen sind die Großunternehmen nicht unwichtig: Laut den Aufstellungen für den Haushaltsplan 2020 fließen allein knapp 1,2 Millionen Euro Gewerbesteuer aus dem „Ernährungsgewerbe“ und knapp 15,4 Millionen Euro Gewerbesteuer aus dem „sonstigen produzierenden Gewerbe“ in die Stadtkasse. Zusammen macht das fast 50 Prozent der gesamten Gewerbesteuer aus. Singen und Industrie – eins ist ohne das andere nicht möglich.
Wie ist es heute, in Singen in der Industrie zu arbeiten? Welche Sorgen und Nöte treiben die Arbeitnehmer um? Und wie empfinden beide Seiten, Unternehmen und Stadt, das gemeinsame Dasein? Wie werden die vergangenen acht Jahre unter Oberbürgermeister Bernd Häusler gesehen? Ein Überblick vor der Oberbürgermeisterwahl am Sonntag, 11. Juli.
Ohne Industriebetriebe wäre die Entwicklung der Stadt zur jetzigen Größe nicht möglich gewesen. Eine besondere Rolle spielte die Firma Maggi. Denn Julius Maggi siedelte das Werk mit dem markanten Firmenzeichen schon 1887 in Singen an. „Die Stadt hat viel von ihrem Wachstum der Maggi zu verdanken“, sagt Alfred Gruber, Vorsitzender des Betriebsrats im Singener Maggi-Werk. Bis heute sei es das weltweit größte Maggi-Werk, sagt Gruber. Etwa 600 Menschen seien dort beschäftigt, sagt Personalleiterin Raphaela Auer.
Was Arbeitnehmer und ihre Vertreter umtreibt
Was treibt diese Menschen und ihre Vertreter derzeit um? Ein Wort zieht sich durch die Erklärungen von Gruber und Betriebsratsmitglied Robert Rastädter: Digitalisierung. Und die hat ihre Auswirkungen. Schon jetzt gebe es in den Werkshallen viel weniger Arbeitsplätze für ungelernte Kräfte, die etwa Maschinen bestücken: „Jetzt steht da eine qualifizierte Kraft, die die Maschine per Tastatur und Display bedient“, sagt Gruber. Ausbildung sei daher immer wichtiger, schildert Rastädter.
Aus ihrer eigenen Berufstätigkeit können sich Gruber und Rastädter an deutlich höhere Mitarbeiterzahlen erinnern. In Höchstzeiten seien 3000 Menschen im Unternehmen beschäftigt gewesen, sagt Rastädter. Als er selbst vor 28 Jahren in Singen angefangen hat, seien es 1500 gewesen. In der jüngsten Zeit ist die Zahl aber etwa gleich geblieben, Personalleiterin Auer berichtet von 620 Mitarbeitern vor drei Jahren. Dennoch gewinne das Singener Werk an Bedeutung, sagen die Betriebsräte. Denn mit dem Produkt- und Technologiezentrum sei ein Herzstück von Maggi in Singen, so Gruber.
Einfache Tätigkeiten werden immer weniger
Die Themen ähneln sich, wenn man mit Arbeitnehmervertretern aus anderen Singener Unternehmen spricht. Auch Thomas Fischer, Betriebsrats-Chef bei Fondium, berichtet, dass gering Qualifizierte auf dem Singener Arbeitsmarkt schwieriger etwas finden. Doch in der Gießerei gebe es einige der sogenannten einfachen Tätigkeiten, die kein Roboter ersetzen könne. Die Zahl der Mitarbeiter sei nach dem Übergang des Schmelzwerks von Georg Fischer zu Fondium gesunken, sagt Fischer.
Auch Bernhard Widmann, seit Dezember Betriebsratsvorsitzender bei Constellium, sagt, die einfachen Jobs gebe es noch, das Segment schrumpfe aber. Bei den modernen Anlagen gebe es mehr Automatisierung. In den vergangenen acht Jahren sei die Zahl der Mitarbeiter an den Standorten Singen und Gottmadingen sogar gewachsen. Das Unternehmen gibt die Zahl für beide Standorte zusammen mit mehr als 2000 an.
Kann die Industrie in Singen noch die Arbeitsplätze bieten, die von den Menschen gebraucht werden? Wenn man sich mit Achim Schneider, Mitgründer und -gesellschafter von Fondium sowie Co-Geschäftsführer der Fondium Management BV, unterhält, gewinnt man eher den umgekehrten Eindruck: „Es ist in allen Bereichen schwierig, Mitarbeiter zu finden“, sagt er. Die Personalgewinnung bei den einfachen Tätigkeiten sei sogar am schwierigsten. Die Automatisierung in der Gießerei werde weiter vorangetrieben, obwohl man wohl schon zu den am meisten automatisieren Gießereien weltweit zählen dürfte. Doch als Autozulieferer stehe man unter Preisdruck der Abnehmer, der großen Autokonzerne. Bei „derzeit super Auftragslage“ habe man nun mit 770 fest angestellten und 130 Leiharbeitern einen Personalstand erreicht, mit dem man wettbewerbsfähig produzieren könne. Und Schneider berichtet von Zukunftsplänen. So wolle das Unternehmen Hochschulaktivitäten nach Singen holen und ein Start-Up-Center auf dem eigenen Gelände gründen.
Konkurrenz um Arbeitskräfte wächst
Mehr oder weniger offen hört man aus den Unternehmen auch, dass das Wachstum des Takeda-Werkes für härtere Konkurrenz um Arbeitskräfte sorgt. Die Zahl der Mitarbeiter am Standort Singen sei gewachsen, heißt es beim Unternehmen. Derzeit liege diese bei etwa 1000 Beschäftigten, inklusive 50 Auszubildenden, so Andreas Hundt aus der Kommunikationsabteilung.
Für den amtierenden Oberbürgermeister Bernd Häusler gibt es praktisch einhelliges Lob von Arbeitnehmer- wie Unternehmerseite. Als es beim Maggi-Mutterkonzern Nestlé ans Sparprogramm ging, sei Häusler selbst nach Frankfurt gefahren und habe sich für den Singener Standort eingesetzt, sagt Maggi-Betriebsrat Gruber. Als Fondium im vergangenen Jahr in einer Krise gesteckt habe, sei Häusler öfter präsent gewesen, er habe nach seinem Eindruck ein offenes Ohr für die Interessen der Arbeitnehmer, sagt Betriebsrat Fischer. Und Constellium-Betriebsrat Widmann bezeichnet die Zusammenarbeit mit OB, Stadtverwaltung und Gemeinderäten als sehr angenehm.
Auch Achim Schneider vom Fondium-Management lobt die Begleitung durch Häusler und die Wirtschaftsförderer von Singen aktiv, etwa beim Übergang ins neue Unternehmen oder bei den Zukunftsvorhaben. Auch Takeda-Werksleiter Dirk Oebels schreibt auf Anfrage, dass Häusler sich viel Zeit für die Unternehmen nehme und an einem Austausch mit Werksleitung und Arbeitnehmern interessiert sei. Und Maggi-Personalleiterin Auer sagt, dass dem Unternehmen bei allen Themen, die die Stadt berühren, unkompliziert geholfen worden sei: „Auch als der Busbahnhof vor unserem Werksgelände in der Julius-Bührer-Straße war, konnten wir unsere Themen immer direkt mit der Stadt klären.“
Energie ist ein Zukunftsthema
Themen für die Zukunft gibt es indes auch: Für Widmann vom Constellium-Betriebsrat und Schneider vom Fondium-Management ist das das Thema Energie: „Wir brauchen viel klimafreundliche Energie, damit wir dekarbonisieren können“, sagt Schneider.
Und wie steht der Amtsinhaber selbst zur Industrie in der Stadt? Er schreibt auf Anfrage, die Industrie trage wesentlich zum Wohlstand der Stadt bei: „Wir können uns glücklich über die Unternehmen an unserem Standort schätzen.“ Und er hebt hervor, dass viele der Singener Industrieunternehmen mit ihren Produkten Weltmarktführer seien. An der intensiven Zusammenarbeit von ihm und der Wirtschaftsförderung mit den Unternehmen werde sich auch nach einer möglichen Wiederwahl nichts ändern. Und auch künftig wolle er Singener Betriebe darin unterstützen, sich weiterzuentwickeln. Das neue Gewerbegebiet Tiefenreute südlich der Georg-Fischer-Straße soll Raum für neue und innovative Unternehmen schaffen. Helmut Happe, der Häusler bei der Wahl am 11. Juli herausfordern will, will sich erst nach dem Ende der Bewerbungsfrist äußern.