Das Ermittlungsverfahren dauerte eine halbe Ewigkeit, für den Prozess jedoch wurde nicht einmal ein Vormittag benötigt. Dabei wogen die Vorwürfe schwer: Vor dem Singener Amtsgericht ging es um „Menschelhandel zum Zweck sexueller Ausbeutung“, auf der Anklagebank saß eine 1980 geborene Frau aus dem Hegau, die im Sommer 2011 eine 17-Jährige binnen vier Wochen und unter Abgabe von Kokain in 30 Fällen zur Prostitution gezwungen und das Geld für sich behalten hatte. Ort des Geschehens war eine Wohnung in der Singener Südstadt.
Das hört sich nach Schwerstkriminalität an und so ist es auch. Aber wer trägt daran Schuld, wie verteilt sie sich? Das Urteil einer auf zwei Jahre zur Bewährung ausgesetzten einjährigen Haftstrafe sowie eine Entschädigungszahlung in Höhe von 1000 Euro an das Opfer deutet die Kluft zwischen den Taten und der Verantwortlichkeit an. Bei der Verhandlung am Dienstag unter Leitung von Richterin Daniela Krack geht dabei bereits aus den persönlichen Angaben der Angeklagten die schwierige Grenzbestimmung zwischen Täterschaft und Opferrolle hervor.
Die Vorgeschichte
Dabei lässt sich erahnen, wie die Frau auf die schiefe Bahn geriet. Kein Schulabschluss, eine abgebrochene Ausbildung, Erkrankungen, zwei Mal verheiratet, zwei Mal geschieden, drei Kinder von drei Männern, abgesehen von diversen Minijobs ohne Arbeit, ansonsten harzt sie. Nein, der Lebenslauf bis 2013 ist nichts zum Vorzeigen, dazu kommt einiges Kerbholz: Sieben Vorstrafen finden sich darauf, wobei Trunkenheitsfahrten ohne Führerschein noch zu den geringeren Vergehen zählen. Weit schwerer wiegen die Beihilfe zu einer räuberischen Erpressung, Diebstahl oder etwa die Messerattacke auf eine Kontrahentin in einem Beziehungsstreit.
Wahrlich, da sitzt kein Unschuldsengel auf der Anklagebank. Wer aber wirft den ersten Stein, wenn man die andere Seite der Geschichte hört? Strafverteidiger Gerhard Zahner muss seine Mandantin dabei mehrfach zur Erzählung über das Milieu ermuntern, dem die Frau viele Jahre angehörte. Sie scheut, duckt sich weg, krümmt den mageren Körper, zupft nervös am Pullover. Da will sich offensichtlich jemand klein machen, nicht auffallen, in Ruhe gelassen werden. Es ist diese Körpersprache, die als Phantomschmerz fast mehr noch als die Erzählung die brutale Welt einer eigenen Gesetzen folgenden Rockerszene andeutet.
Martyrium in einer gewaltätigen Szene
Fakt ist: Die Frau wird Opfer zahlreicher Straftaten. Drei Mal liegt sie auf der Intensivstation, in einem Fall vier oder fünf Tage, danach folgen Behandlungen auf der Normalstation. Ihr werden Knochen gebrochen, einmal kommt sie knapp an einer Hirnblutung vorbei, sie verteidigt ihre Kinder, wird absichtlich angefahren, eine Spezialeinheit der Polizei sorgt für ein Gewaltschutzverfahren. Die Frau flieht vor ihrem gewalttätigen Lebenspartner in eine andere Stadt und obwohl die Frau all in diesen Fällen zweifelsfrei das Opfer ist, will sie nicht so recht raus mit der Sprache. Gerhard Zahner spricht von einer „schulbuchartigen Affinität“ der Angeklagten zu den Partnern, zur Szene.
Wie umgehen mit einer solchen Rollenverquickung von Hammer und Amboss? Zumal – wie in diesem Fall – die Frau seit 2013 nicht straffällig geworden ist, Arbeit in Aussicht hat, sich und ihre Tochter inzwischen in einem familiär stabilen Umfeld weiß? Vor Gericht nennt man so etwas „günstige Sozialprognose“ und diese lässt einigen Raum zwischen dem Geist und Buchstaben des Gesetzes. Auf Vorschlag des Strafverteidigers ziehen sich also Richterin, Schöffen, Anklagevertreter und Verteidigung ins Hinterzimmer zurück und kommen nach etwa einer halben Stunde mit einem denkwürdigen Vorschlag zurück. Sollte die Angeklagte ein Geständnis ablegen, könne sie mit einem milden Urteil rechnen.
Befreiung aus der Szene als „immense Leistung“
Wenn der Eindruck nicht täuscht, wäre der Deal nicht unbedingt notwendig gewesen. Die Frau gesteht sogleich, entschuldigt sich beim damals 17jährigen Opfer. Sie will offensichtlich raus aus der Situation, weg von der Erinnerung und nie mehr an falsche Männer geraten. Gut vorstellbar, dass für die Angeklagte das Gericht wie ein düsteres Nachspiel wirkt, denn bereits 2012 hat sie mit der Rockerszene gebrochen. Darin sehen Verteidiger, Staatsanwalt und Richterin eine immense Leistung, die bei der Urteilsfindung ebenso berücksichtigt wird wie das außergewöhnlich lange Ermittlungsverfahren.
Epilog: Im Gerichtssaal sitzt als Zuhörerin die Mutter der Angeklagten, auch der Vater kümmert sich und dann ist da noch ein Bruder. Liebe Menschen, wie Gerhard Zahner am Rande der Verhandlung sagt, ein familiär-bürgerliches Umfeld. Das Urteil ist gesprochen, Mutter und Tochter verlassen den Saal. Es fühlt sich an wie die Bestätigung der günstigen Sozialprognose.