Herr Müller, im Juni wird es seitens des ADAC in Steißlingen Kurse, speziell für ältere Verkehrsteilnehmende, geben. Wie verändern sich denn unsere Fähigkeiten im Alter?

Andreas Müller: Der demografische Wandel schreitet voran. Das sehen wir im Straßenverkehr. Die Verkehrsteilnehmer werden immer älter, wollen dennoch ihre Mobilität nicht aufgeben. Auch wenn sich viele fit fühlen, lassen dennoch die kognitiven und motorischen Fähigkeiten nach – beim einen mehr, beim anderen weniger stark. Die Sehkraft lässt nach, die Beweglichkeit, das Hörvermögen – im Grunde genommen sind alle unsere Sinne davon betroffen, sie funktionieren nicht mehr wie bei einem 25- oder 35-Jährigen. Gleichzeitig werden die alltäglichen Verkehrssituationen komplexer. Deshalb sehen wir hier Handlungsbedarf und haben für Senioren von Theoriekursen bis hin zu begleiteten Fahrstunden einige Angebote zusammengestellt.

Ich kann mir vorstellen, dass es bei vielen älteren Menschen an Einsicht fehlt. Was sollte ein Warnzeichen sein? Wann besteht Handlungsbedarf?

Andreas Müller: Meist merkt man, dass es einem schwerer fällt, lange Strecken zu fahren. Andere bemerken, dass sie es anstrengt, in der Dämmerung zu fahren, in der Dunkelheit, bei Regen oder Nebel. Wer dies bemerkt, dem raten wir, sich regelmäßig ärztlich untersuchen zu lassen. Manchmal reicht es schon, eine Brille zu tragen. Wer Einschränkungen beispielsweise beim Schulterblick hat, kann mit gezielten Mobilitätsübungen dafür sorgen, die körperliche Fitness und Beweglichkeit zu verbessern. Was zudem vielen nicht bewusst ist, ist die Wirkung, beziehungsweise die Wechselwirkung von Medikamenten, die eigentlich das Autofahren verbieten. So kann sogar ein äußerlich angewendetes Medikament unter Umständen dazu führen, dass ich – in Kombination mit anderen Medikamenten – nicht am Straßenverkehr teilnehmen kann. Daher ist es wichtig, sich beim Arzt darüber aufklären zu lassen, wie ein neu verschriebenes Medikament sich auswirken kann.

Viele ältere Menschen – gerade im ländlichen Bereich – sind auf Ihr Auto angewiesen. Sie beherrschen die Verkehrsregeln intuitiv – sind dennoch nicht auf dem neuesten Stand der Verkehrsordnung.

Andreas Müller: Auch wer bisher unfallfrei gefahren ist, weiß oft nicht, dass sich die Verkehrsregeln seitens des Gesetzgebers verändert haben. Daher geben wir in unseren Veranstaltungen ein Update, was sich nach Novellierung der Straßenverkehrsordnung nach 2022 gravierend verändert hat. Da fehlt vielen Senioren der Anschluss. Sie beherrschen zwar die Grundregeln, die ihnen in Fleisch und Blut übergegangen sind, sind aber oft unsicher, beispielsweise im Kreisverkehr oder wie sie sich in einer der neu geschaffenen Fahrradstraßen verhalten sollen.

Wie gut werden denn Ihre Senioren-Kurse angenommen?

Andreas Müller: In dem Alterssegment der 60- bis 70-Jährigen verbuchen wir die wenigsten Teilnehmenden, da fühlt man sich noch mitten im Leben und fit. Unsere Hauptklientel liegt in der Gruppe der 70- bis 90-Jährigen, und das spiegelt gut die demografische Entwicklung wider. Männer haben eher eine Hemmschwelle, zu uns zu kommen – wir verzeichnen einen größeren Frauenanteil von etwa 80 Prozent.

Das Fahrsicherheitszentrum in Steißlingen bietet die Möglichkeit, auch das Verhalten in gefährlichen Situationen gefahrlos zu üben.
Das Fahrsicherheitszentrum in Steißlingen bietet die Möglichkeit, auch das Verhalten in gefährlichen Situationen gefahrlos zu üben. | Bild: Marcel Bischler

Worauf führen Sie das zurück?

Andreas Müller: Oft waren Frauen in jüngeren Jahren, gerade im Kontext Familie oder Urlaubsfahrten, „nur Beifahrende“. Und das ist jetzt gar keine Abwertung! Meistens sind die Männer in Familien die regelmäßigen Autofahrer. Aber werden sie dann krank, alt oder versterben, müssen die Frauen nach langer Pause wieder selbst ans Steuer.

Wie ist die Reaktion auf die Seminare?

Andreas Müller: Wie die Moderatoren erzählen, ist es eine Freude anzusehen, wie interessiert und aufgeschlossen die Teilnehmenden mit dabei sind, sich für den Input bedanken und was sie alles von den Tipps umsetzen wollen. Die Seminare sind beliebt, der Zuspruch ist groß, wir haben oft lange Wartelisten. Wir haben Einzelpersonen, die sich anmelden, manchmal gibt es auch Seniorenverbände, die eine Infoveranstaltung organisieren und uns dafür anfragen. Unser Ziel ist es, älteren Menschen das Rüstzeug zu geben, damit sie möglichst lange mobil und sicher bleiben.

Wir haben jetzt über die freiwillige Teilnahme gesprochen. Was, wenn Familienangehörige feststellen: Oh, Oma oder Opa haben das Autofahren nicht mehr im Griff?

Andreas Müller: Leider ist das ein fast ebenso großes Tabuthema, wie innerhalb der Familie über das Sterben zu sprechen. Zunächst sollte man mit der betreffenden Person wertschätzend und sachlich das Gespräch suchen und gegebenenfalls darauf hinweisen, dass es unsererseits viele Angebote gibt, die Fahrtüchtigkeit neutral zu überprüfen. Neben unseren Veranstaltungen gibt es unter anderem auch einen Fahrfitness-Check, sogenannte Rückmeldefahrten, bei denen man von einer Fahrlehrerin oder einem Fahrlehrer begleitet wird und ein objektives Meinungsbild erhält. Was klappt, was nicht, worauf sollte man besonders achten, was sollte man vielleicht vermeiden? Die neutrale Rückmeldung gibt die Möglichkeit, sich zu reflektieren und zu schauen, wie man noch ein bisschen an der eigenen Mobilität und Sicherheit arbeiten kann.

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Was ist, wenn es ein ernüchterndes Urteil gibt? Kann einem nach solch einem Check dann die Fahrerlaubnis entzogen werden?

Andreas Müller: Nein! Es handelt sich um eine neutrale Bewertung ohne rechtliche Bindung und ohne dass das Ergebnis Angehörigen oder Behörden mitgeteilt wird. Jedoch hat man so für sich selbst die Gewissheit, einen Status Quo und die Möglichkeit, auf die Situation zu reagieren. Man kann sich ärztlichen Rat geben lassen, auf Hilfsmittel wie eine Brille zugreifen oder auch entscheiden, dass man nur noch eingeschränkt oder gar nicht mehr aktiv am Straßenverkehr teilnimmt. Wichtig ist die Selbstreflexion, die Einsicht und die Tatsache, die Entscheidung autark für sich zu treffen.