Fasnacht und die Nationalsozialisten – das ist eine Beziehung voller Verstrickungen und Verwicklungen. Eine Beziehung, die sich nicht auf die Gemeinschaft der Narren beschränkt, sondern ganze Stadtgesellschaften betrifft. Und es ist eine Beziehung, deren Auswirkungen bis heute zu spüren sind. Das Narrengericht hat im Sommer begonnen, seine Beziehungen zu den Nationalsozialisten umfassend aufzuarbeiten.
Damals sorgten Enthüllungen zur Nazi-Vergangenheit des aus Stockach stammenden Willi Hermann für Aufsehen, berühmter Fasnachter der KonstanzerNiederburg, Autor zahlreicher regionaler Fasnachtslieder und von 1961 bis 1977 auch Mitglied des Narrengerichts. Thomas Warndorf, Historiker und Soziologe, bis 2018 Kläger und weiterhin Archivar des Narrengerichts, hat nun Ergebnisse vorgelegt.
Die Rolle von Willi Hermann in der Stockacher Fasnacht sei nicht allzu groß gewesen, lautet eine Erkenntnis von Warndorf – und zwar weder vor 1945 noch nach 1961. Vor 1945 sei Hermann Geselle bei den Zimmerern gewesen, berichtet der Archivar. Im Protokollbuch der Zimmerer sei nur ein Auftritt von Hermann vermerkt, nämlich eine Gleichschaltungsrede im Juni 1933. Mit solchen Reden sollten die Mitglieder auf das Führerprinzip und die nationalsozialistische Organisation "Kraft durch Freude" eingeschworen werden.

Ansonsten gebe es in den Protokollbüchern keinen Hinweis darauf, dass Hermann Einfluss genommen habe – was nicht unbedingt etwas heißen müsse, so Warndorf. Allerdings sei Willi Hermann ab 1936 oder 1937 als Propagandaredner für die NSDAP unterwegs gewesen. Später war er Wehrmachtssoldat und möglicherweise in ein Kriegsverbrechen in Griechenland verwickelt. Für den damaligen NarrenrichterAugust Rettich, laut Warndorf überzeugter Nazi, sei Hermann wegen seiner Abwesenheit weniger wichtig gewesen.
Auch nach seiner Aufnahme ins Narrengericht 1961 habe Hermann, der zu diesem Zeitpunkt schon lange in Konstanz lebte, dort keine große Bedeutung gehabt. Er sei selten bei den Sitzungen gewesen, die Protokolle verzeichnen keine Wortmeldungen von ihm. Wenn er sich zwischen Fasnachtsanlässen in Konstanz und Stockach entscheiden musste, habe er sich immer für Konstanz entschieden, entnimmt Warndorf den Akten. Dies glich Hermann offenbar durch Texte für Sketche, Narrenspiele und Lieder aus – von nationalsozialistischer Gesinnung keine Spur mehr. Auch an Texten für die Verhandlungen des Narrengerichts, die in den 1960er-Jahren entstanden, sei Hermann nicht beteiligt gewesen.
Kein wirklicher Neubeginn nach dem Zweiten Weltkrieg
Zentraler als die Figur Willi Hermann ist für Warndorf im Verhältnis von Narrengericht und Nationalsozialismus die Tatsache, dass es nach dem Zweiten Weltkrieg offenbar keinen wirklichen Neubeginn gab. Die Neuzulassung des Vereins bei der französischen Militärverwaltung sei deutlich schneller gegangen als bei anderen Vereinen, eine Namensänderung wurde nicht gefordert. Die Militärverwaltung habe sogar 100 Liter Wein gespendet, ihre Mitglieder seien zu Laufnarren geschlagen worden, sagt der Historiker. Da könnte bei den damaligen Gerichtsnarren der Eindruck entstanden sein, es sei alles wieder gut. "Es gab weder Rückblick noch Neubeginn", so Warndorf.
Und mit der Zeit seien die alten Kräfte wiedergekommen. In den späten 1950er- und frühen 1960er-Jahren, als Friedrich Dandler sen. Narrenrichter war, seien auch wieder Menschen ins Narrengericht berufen worden, um deren NS-Vergangenheit man wusste. Willi Hermanns Aufnahme, auf Vorschlag des Narrenrichters, sei der Höhepunkt in dieser Entwicklung gewesen, so Warndorf. Gefragt gewesen sei damals jemand, der bunte Abende organisieren und Texte schreiben konnte. Außerdem hätten die Stockacher Narren ein gutes Verhältnis zur Niederburg gehabt, bei der Hermann schon berühmt gewesen sei – wovon man womöglich auch profitieren wollte.
Dabei unterstellt Warndorf keinen Versuch, systematisch alte Nazis ins Kollegium zu holen, denn in Dandlers Amtszeit seien auch viele unbelastete Leute dazugekommen. Doch in Stockach habe jeder gewusst, wer Willi Hermann war, da ist sich Warndorf sicher – zumal die Stadtverwaltung Hermann im Entnazifizierungsverfahren keinen Entlastungsbrief ausgestellt habe.
Der Vorwurf: Manche haben wieder besseren Wissens für die Aufnahme von Willi Hermann gestimmt
Auch wenn es damals üblich gewesen sei, nicht nach der Vergangenheit der einzelnen Leute zu fragen, so macht Warndorf den damaligen Gerichtsnarren doch einen Vorwurf. Bei der geheimen Abstimmung über Hermanns Aufnahme hätten auch drei Männer mitgestimmt, die schon dessen Gleichschaltungsrede vor dem Krieg miterlebt hätten. Auch sie hätten mit Ja gestimmt – wider besseren Wissens. "Dabei hätte eine Gegenstimme genügt, um die Aufnahme von Willi Hermann zu verhindern", so Warndorf, der selbst viele solcher Abstimmungen miterlebt hat. Denn aufgenommen werden neue Gerichtsnarren nur bei einstimmigem Votum. Und weil die Abstimmung geheim war, hätte man nicht einmal offen diskutieren müssen. Die Lieder von Willi Hermann werden nicht mehr im offiziellen Programm der Stockacher Narren gesungen, sagen Thomas Warndorf und NarrenrichterJürgen Koterzyna.
Aufarbeitung
Thomas Warndorf erklärt, auch aus seiner eigenen Erfahrung als Historiker, dass die Fasnacht im Großen und Ganzen nicht als Forschungsgegenstand für die Geschichtswissenschaft wahrgenommen worden sei. Deswegen gebe es nur wenige frühere Arbeiten. Bei seiner Aufarbeitung wolle er gründlich vorgehen, weshalb er erst einige Monate nach dem Konstanzer Stadtarchivar Jürgen Klöckler an die Öffentlichkeit gehe. Und die spärliche Quellenlage sorge für Verzögerungen. (eph)