Der Bedarf an Schulsozialarbeit und ähnlichen Angeboten für Schüler nimmt spätestens seit der Corona-Pandemie mit all ihren Einschränkungen rasant zu, wie immer wieder bei Berichten der Schulsozialarbeiter deutlich wird. Doch ausgerechnet jetzt streicht der Bund gewisse Fördermittel dafür. Ein Projekt, bei dem mit Respekt-Coaches demokratische Werte, Toleranz und Respekt vermitteln, ist ab 2024 nicht mehr im Bundeshaushalt enthalten. Die Stockacher Schulen und die beteiligten Coaches schlagen daher Alarm.

„Das ist ein Riesenverlust. Politisch, sozial und ökonomisch ist diese Entscheidung katastrophal. Ein Ausdruck politischer Inkompetenz“, kritisiert Johannes Renner von der Awo, der als Respekt-Coach unter anderem am Berufsschulzentrum (BSZ) in Stockack im Einsatz ist, die Entscheidung.

Nachfrage der Schulen wurde immer größer

2018 war das Respekt-Coaches-Programm als Modellprojekt der Jugendmigrationsdienste (JMD) im Rahmen eines Bundesprogramms gestartet worden. Der Bund übernahm die Finanzierung. Träger wie die Awo, die Diakonie oder die Caritas stellten die Coaches, meist Sozialarbeiter, und boten ihre Programme an Schulen an.

Anfangs seien die Coaches und Träger auf die Schulen zugegangen, berichtet Renners Kollegin Caroline Sperling. „Zuerst lief das schleppend, weil die Schulen nicht immer den Bedarf sahen. Doch sehr bald kamen die Schulen von alleine auf uns zu. Seit vergangenem Jahr können wir beide nicht einmal mehr alle Anfragen abdecken“, berichtet sie.

Die Respekt-Coaches Caroline Sperling und Johannes Renner müssen ihre Arbeit einstellen, weil das Programm nicht weiter finanziert wird. ...
Die Respekt-Coaches Caroline Sperling und Johannes Renner müssen ihre Arbeit einstellen, weil das Programm nicht weiter finanziert wird. Darüber ist auch Stefanie Rau, Abteilungsleiterin Ausbildungsvorbereitung und Berufsfachschule traurig. | Bild: Dominique Hahn

Sozialarbeiter der Schulen sind alleine überlastet

„Der Bedarf ist natürlich vor allem bei unserem Klientel sehr groß und zuletzt immer größer geworden“, berichtet auch Stefanie Rau, Abteilungsleiterin Berufsfachschule und Berufsvorbereitung am BSZ. Für die Schulen sei das Programm fachlich, zeitlich und finanziell eine unglaubliche Entlastung. Denn, so Rau: „Wir Lehrer und unsere Sozialarbeiter können das nicht leisten.“

„Der Bedarf ist natürlich vor allem bei unserem Klientel sehr groß und zuletzt immer größer geworden“, sagt Stefanie Rau, ...
„Der Bedarf ist natürlich vor allem bei unserem Klientel sehr groß und zuletzt immer größer geworden“, sagt Stefanie Rau, Abteilung Berufsfachschule und Berufsvorbereitung am BSZ. | Bild: Andrea Gihr

Doch im Rahmen von Haushaltskürzungen soll das Programm ab 2024 eingestellt werden. Der Bund kürzt die Mittel für den Kinder- und Jugendplan um 44,6 Millionen Euro (18,6 Prozent). Noch 2022 und 2023 waren die Mittel erhöht worden, nun fallen sie auf das Niveau von 2019 zurück. Für die Respekt-Coaches ist da kein Platz mehr.

Eine fatale Entscheidung, finden die beiden Coaches und auch Stefanie Rau. Der Vorteil des Programms sei laut Sperling, dass die Angebote an Zielgruppen angepasst sind, je nach Klassenstufe. „Wir suchen die passenden Angebote raus. Wo es noch keine gibt, entwickeln wir Coaches selbst welche. Das ist eine zeitintensive Arbeit, die die Schulen selbst nicht leisten könnten“, sagt Sperling.

Worum geht es bei dem Programm?

Mit Stockkampf und Boxen sollen die Schüler den Umgang mit Gewalt und Selbstfindung lernen. Dazu gibt es Medientrainings und Übungen zum Umgang mit Wut, Mobbing und Beleidigungen. Häufig kommen externe Experten für Vorträge. So habe ein zweifacher Mörder, der 19 Jahre im Gefängnis war, als abschreckendes Beispiel von seinen Erfahrungen berichtet. Und ein Transsexueller brachte den Jugendlichen Diversität näher.

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„Die haben natürlich eine andere Akzeptanz unter den Schülern, als wenn wir Lehrer selbst darüber sprechen“, sagt Rau. Bei Schülern seien die Veranstaltungen überwiegend gut angekommen. Künftig fehlen aber die Mittel, um das zu bezahlen. „Es ist sehr großer Verlust, weil man es nicht sofort ersetzen kann. Die Schüler trifft es am stärksten“, sagt Rau.

Zeitpunkt der Streichung überrascht

Besonders der Zeitpunkt stößt den Beteiligten auf. Seit Corona sei der Bedarf an Angeboten für die Schüler größer denn je. „Durch Isolation und Einschränkungen sind viele Kinder frustriert oder haben weniger Impulskontrolle. Viele verbrachten mehr Zeit vor dem Smartphone und waren mit Fake News konfrontiert. Sie müssen nun den Umgang mit Medien noch mehr lernen“, erläutert Renner. Zudem steige der Bedarf durch die zunehmende Migration immer weiter an. „Die Streichung hat uns daher völlig überrascht“, sagt er.

Auch Awo-Geschäftsführerin Regina Brütsch sagt: „Die Awo bedauert die Ankündigung der Bundesregierung sehr. Diese Stellen fallen ersatzlos weg. Damit geht viel Know-how und ein erfolgreiches Format verloren, das durch klassische Schulsozialarbeit nicht ersetzt werden kann. Das ist gerade jetzt in Zeiten wachsender Angst vor Überfremdung und Verlust ganz besonders fatal.“

Fatale Folgen für die Schüler und Coaches

Auch die politische Situation sei ungünstig. „Wenn junge Menschen mit Kriegen in der Ukraine oder jetzt in Israel alleine gelassen werden, entsteht schnell ein Schwarz-Weiß-Denken. Und das ist der Ursprung von Radikalisierung. Sie brauchen daher Hilfe im Umgang mit diesen Themen“, erklärt Johannes Renner.

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Die Entscheidung sei daher auch ökonomisch kurzsichtig. „Die Mittel, die man jetzt spart, werden künftig anderswo vielfach so hoch gebraucht, wenn mehr Jugendliche arbeitslos, kriminell oder radikal werden“, ist der Coach überzeugt.

Und auch für Coaches selbst hat das Aus Folgen. Sie stehen erst einmal ohne Arbeit da. Einige orientieren sich laut Renner innerhalb ihrer Organisation um. Er selbst habe aber noch nicht anderes. Eventuell will er sich mit seinen Inhalten selbstständig machen.

Ersatzprogramm kann Schaden nicht verhindern

Als Ersatz ist vom Bund angedacht, die Verantwortung an die Länder abzugeben mit dem neuen Start-Chancen-Programm. Laut dem Bildungsministerium werden die Umsetzung und der genaue Zeitpunkt dafür derzeit zwischen Bund und Ländern geklärt. Das Programm soll aber wohl erst 2025 anlaufen, so Caroline Sperling. Es gibt also ein Jahr Leerlauf.

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In der Zeit würde sich viel Personal umorientieren und dann fehlen. Sperling sagt: „Hier werden bestehende Strukturen eingerissen und es wird dauern, neue aufzubauen. Es ist auf gut Deutsch saudumm, wie es gelaufen ist.“ Außerdem sei die Zeit bis Jahresende zu kurz, um die Erkenntnisse aus dem laufenden Programm in ein neues zu überführen. „Dass es nicht einmal eine vernünftige Exit-Strategie gibt, ist sehr bedauerlich“, fügt sie hinzu.

Ein kleiner Hoffnungsschimmer bleibt den Coaches aber noch: Der Haushaltsentwurf muss erst noch durch den Bundestag.