Die beiden Beobachtungsposten auf dem Segelkatamaran, der von Gran Canaria aus gestartet ist, sind wachsam. Sie lauschen in die Nacht und suchen mit dem Fernglas den wogenden Horizont des Atlantiks ab, als plötzlich in der Dunkelheit kleine Lichter aufblitzen. Durch das Fernglas erkennt die Crew noch nicht, um was es sich handelt. Vorsichtig nähern sie sich den hellen Punkten, bis klar wird, dass es zwei Boote sind, auf denen sich Menschen befinden. Eines der Boote besitzt einen stärkeren Motor, das andere einen schwach tuckernden 15-PS-Motor, der Aussetzer hat. Sie tauchen wieder in die Dunkelheit ab. Endlich, nach etwa 20 Minuten gibt es wieder Lichtsignale, sodass die Boote geortet werden können. Beim Herannähern wollen sie flüchten. „We wait here! Your are safe“, rufen die Mitglieder der Crew den Menschen auf dem Boot zu, die Angst davor haben, abgedrängt oder in ihr Heimatland zurückbefördert zu werden. Dann erkennen sie, dass sie tatsächlich gerettet sind. „Die Menschen schreien vor Freude“, ist im Schifftagebuch zu lesen.

Auffinden des Flüchtlingsbootes Video: privat

Hoffentlich keine Toten

Diese Szenerie, welche Thomas Nuding und seine Mitstreiterinnen und Mitstreiter der Seenotrettung „Sarah“ („Search And Rescue for All Humans“) Ende Oktober 40 Seemeilen vor Gran Canaria erlebten, ist beispielhaft für die Rettungsaktionen auf dem Mittelmeer oder auf dem Atlantik. „Das erste, was mir durch den Kopf geht, wenn wir ein Boot sichten, ist: Hoffentlich gibt es keine Toten“, erzählt Thomas Nuding von seinen Einsätzen. Als Nächstes stelle sich die Frage, ob Kranke oder Verletzte an Bord sind und ob genug Wasser da ist. Ist alles gecheckt, informieren sie die Küstenwache per Funk, die ein Schiff schickt, um die Menschen aufzunehmen.

Bild 1: Von der afrikanischen Küste zu den Kanaren: Die gefährlichste Fluchtroute nach Europa
Bild: Müller, Cornelia

Hochseetaugliches Schiff notwendig

Ein großes Ziel der Aktivisten von „Sarah“ besteht darin, Spenden für ein hochseetaugliches Schiff zu sammeln. Doch durch die dramatische Zunahme der Flüchtlingsboote auf der Strecke von Marokko, Mauretanien und dem Senegal zu den Kanarischen Inseln sahen sie dringenden Handlungsbedarf. „Das ist die tödlichste Route“, erzählt Thomas Nuding, der seit 2016 bereits sieben Mal an Seenotrettungsaktionen teilnahm. Und das Schlimme dabei sei, dass Spanien so tue, als hätte es das Problem im Griff. „Das ist aber nicht so“, betont der Meßkircher Diplomingenieur. Die Zahlen der Flüchtenden über den Atlantik würden explodieren. Während im Jahr 2019 etwa 2000 bis 2500 Personen auf den Kanaren angekommen seien, waren es in diesem Jahr, Stand Ende November, bereits 20 000 Menschen. Und es sei davon auszugehen, dass die Zahl im neuen Jahr brachial steige.

Spanische Seenotrettung nimmt Flüchtlinge auf Video: privat

Flüchtlinge nach Routen befragt

Bei ihrer Aktion vom 22. November bis 4. Dezember dieses Jahres setzte sich die zuerst sechsköpfige, später vierköpfige Crew zum Ziel, die Fluchtrouten zu sondieren, um die Informationen an die anderen Seenotrettungsorganisationen weiterzugeben. Hierfür sprachen sie mit den Flüchtlingen, die auf Gran Canaria angekommen sind, und verfolgten die Strecke zurück, um herauszufinden, von wo aus sie starten. Dabei stießen sie unter anderem auf den Hafen des mauretanischen Ortes Nouadhibou, der sich auf einer Landzunge befindet, die zur einen Hälfte zu Marokko und zur anderen Hälfte zu Mauretanien gehört. Auf seinem Smartphone zeigt Thomas Nuding ein Luftbild des Hafens. Wie Metallsplitter an einen Magneten reihen sich dort unzählige Fischerboote eng aneinander.

Gerettete Flüchtlinge winken zum Abschied Video: privat

Lebensgrundlage verschwunden

Die Region gehörte zur fischreichsten in Afrika, doch nun seien die Fische verschwunden, da die Gewässer von großen Fangflotten abgefischt wurden und werden – früher von Europäern, mittlerweile von China. Da den Menschen an diesem Küstenstreifen, vom Senegal im Süden bis Marokko im Norden, nichts mehr für ihren Lebensunterhalt geblieben sei, machten sie sich auf diese gefährlichste aller Routen in Richtung der europäischen Inselgruppe, der Kanaren, auf. „Wer mit diesen Booten ins offene Meer aufbricht, hat nichts mehr zu verlieren“, so die Einschätzung von Nuding. Bei einem Teil handle es sich um Schleuserboote. Die seien daran zu erkennen, dass nur das Allernotwendigste an Bord sei, um möglichst viele Personen mitnehmen zu können. Ein anderer Teil bestehe aus privaten Fischerbooten, in denen meist Ausrüstung zu finden sei.

Gerd Geißendörfer (links) und Kameramann Peter Sághy von der Crew von „Sarah“ untersuchen ein verlassenes Boot auf dem ...
Gerd Geißendörfer (links) und Kameramann Peter Sághy von der Crew von „Sarah“ untersuchen ein verlassenes Boot auf dem Atlantik. Eine Markierung deutet auf die Aufnahme der Menschen durch die Seenotrettung hin. Ein dort zurückgelassenes GPS-Gerät gibt Hinweise darauf, dass die Menschen vom mauretanischen Hafenort Nouadhibou aus aufgebrochen waren. | Bild: privat

15-PS-Motoren reichen nicht

Die größte Gefahr für die Flüchtenden bestehe darin, dass in dieser Region die häufigen Nord/Ost-Winde die Boote, die von Süden nach Norden fahren, automatisch auf das offene Meer treiben. Die Kraft der kleinen 15-PS-Motoren reiche nicht, um den Winden zu trotzen, darüber hinaus seien sie nicht dazu gemacht, am Stück eine so große Strecke zu überwinden. Deshalb gehen die Motoren häufig kaputt, wie Thomas Nuding weiß, und die Menschen darauf verschwinden im Atlantik.

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„Der Bereich, in welchem die Flüchtenden unterwegs sind, ist riesig“, erklärt er. Er sei etwa fünfmal so groß wie der Fluchtbereich im Mittelmeer und nicht überwacht. Deshalb seien reichweitenstarke Schiffe notwendig sowie Flugzeuge, um den Bereich des Atlantiks abzusuchen und die Koordinaten für die Rettungsschiffe durchzugeben.

Bernd Nawrata und Dr. Eva Maria Deininger, Gründungsmitglied von „Sarah“ Seenotrettung, halten vor den Kanaren Ausschau nach ...
Bernd Nawrata und Dr. Eva Maria Deininger, Gründungsmitglied von „Sarah“ Seenotrettung, halten vor den Kanaren Ausschau nach Flüchtlingsbooten. | Bild: privat

Fluchtursachen bekämpfen

„Das Schiff, das wir anschaffen wollen, entspricht diesen Spezifikationen. Es soll gut ausgerüstet und reichweitenstark sein“, erklärt der Diplomingenieur. Auch die anderen Seenotrettungsorganisationen würden den Einsatz begrüßen, um Menschenleben retten zu können. Und genau das ist das oberste Ziel von SARAH. „Wir Europäer sind unter anderem daran schuld, dass den Afrikanern die Lebensgrundlage entzogen wurde“, beschreibt er. Um die Migration einzudämmen, brauche es keine Vergrößerung der Hürden, sondern eine Bekämpfung der Fluchtursachen, also eine Möglichkeit des Lebensunterhalts in ihrer Heimat.

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