„In dubio pro reo“ – im Zweifel für den Angeklagten. Diesen Grundsatz des Rechtsstaates zog Richterin Kristina Selig beim Urteil gegen einen 29-Jährigen aus einer Kreisgemeinde heran, der beschuldigt worden war, seine Noch-Ehefrau geschlagen zu haben und sich deshalb vor dem Amtsgericht verantworten musste. Das Verfahren gegen ihn wegen Körperverletzung wurde gegen eine Geldauflage von 800 Euro eingestellt. Selig hatte Zweifel an Aussagen und Beweismitteln aller Beteiligten und urteilte letztlich zugunsten des Beschuldigten.
Beschuldigter: „Alles erstunken und erlogen“
Corona stand am Anfang der Verhandlung. Der Verteidiger versicherte, dass sein Sohn im Kindergartenalter zwar in Quarantäne sei, die Restfamilie aber gesund und er deshalb seine Arbeit machen könne. Im Juni soll der 29-jährige Beschuldigte seine damalige Ehefrau geohrfeigt und gegen den Kopf geschlagen haben, hielt ihm der Staatsanwaltsvertreter vor. „Alles erstunken und erlogen“, erklärte der Mann mehrfach, seine Frau „nie, nie geschlagen“ zu haben. Er mutmaßte, dass die Familie seiner Angetrauten mit den Vorkommnissen etwas zu tun hat. Konkret habe er damals abgelehnt, mit seiner Frau einen 600 Kilometer entfernt lebenden Bruder zu besuchen: „Es war Corona-Hochzeit und das Risiko war mir zu groß.“
Schwiegervater ruft aus dem Heimatland seiner Tochter an
Dies war wohl Auslöser für die Konflikte am mutmaßlichen Tattag. Sein im Ausland lebender Schwiegervater habe morgens bei seinem Vater angerufen und sich über diese Ablehnung beschwert. Dann telefonierte seine Frau im „Fünf-Minuten-Takt“ mit Leuten und letztlich sei der in einer Nachbargemeinde lebende Onkel mit weiterer Verwandtschaft vor dem Haus erschienen, um seine Ehefrau mitzunehmen. Seitdem lebt die Frau nicht mehr im Haus von Mann und Schwiegereltern.
„Familie der Gegenseite lässt mich nicht in Ruhe“
Welche Gründe seine Frau haben könnte, ihn zu verlassen, fragte Richterin Selig. Man wolle Geld von ihm, mutmaßte der Beschuldigte und berichtete, dass die „Familie der Gegenseite“ ihn nicht in Ruhe lasse. Es könnte auch etwas mit der Verlängerung der Aufenthaltsgenehmigung seiner vor zwei Jahren nach Deutschland gekommenen Frau zu tun haben. Auf Nachfrage erfuhr die Amtsrichterin, dass die Ehe arrangiert worden war, wobei das Ehepaar in spe damals bei einem Kaffee alles besprochen habe. „Sie wusste, was sie erwartet“, erklärte der Mann voller Überzeugung. Allerdings habe er an diesem Tag schon befürchtet, dass seine Frau ihn verlassen könnte. Dann fragte Richterin Selig nach dem Status des Vaters. „Er ist das Oberhaupt der Familie“, erklärte der Beschuldigte mit Hinweis auf Landeskultur, bestritt allerdings, dass dieser alle Entscheidungen für alle Familienangehörigen trifft.
Ehefrau fühlt sich wie eine „Sklavin“ behandelt
„Er hat mich geschlagen“, bestätigte das Opfer ihre Strafanzeige, die in Begleitung einer Zeugenbegleiterin und eines Dolmetschers aussagte. Mit ihrem Mann habe es eigentlich keine Probleme gegeben, sondern mit den Schwiegereltern. „Wenn Du nicht machst, was meine Eltern dir sagen. Die Tür ist offen“, habe ihr Mann erklärt, berichtete sie von Drohungen ihres Schwiegervaters. Bei der Polizei habe sie laut Verteidiger zu Protokoll gegeben, quasi als „Sklavin“ behandelt zu werden. Wenn man gesagt bekomme, wann man zu schlafen, zu arbeiten habe oder das Haus verlassen dürfe, dass sei doch wie ein Sklavenleben, entgegnete die Zeugin. „Ich habe das nicht mehr ausgehalten“, erklärte sie, dass sie an diesem Tag ihre Geschwister informierte, um das Problem zu lösen und sie abzuholen. Sie bestätigte auf Nachfrage auch, dass sie mehrfach allein in ihrem Heimatland zu Besuch bei der Familie war.
Ehefrau präsentiert Chatprotokolle mit Drohungen des Mannes
Später habe ihr Mann Kontakt aufgenommen, präsentierte sie zur Überraschung der Beteiligten auch schriftliche Ausdrucke aus einem Chat-Protokoll. „Ich schlage Dich wieder. Das war das erste und letzte Mal, dass Du abgehauen bist“, übersetzte der Dolmetscher mehrere Chats. „Pass auf, ich werde Dich suchen und Dir die Nase brechen“, war auf einem anderen Screenshot zu lesen. „Das habe ich nicht geschrieben. Das ist eine Fälschung“, entgegnete der Beschuldigte und wies darauf hin, dass man so etwas im Heimatland seine Frau für zehn Euro bewerkstellige. Richterin Selig nahm die Protokolle in Augenschein, wobei die Telefonnummer mit der Handynummer des Beschuldigten übereinstimmte.
Schwiegervater: „Habe mich nie mit ihr gestritten“
„Ich habe meine Schwiegertochter bis zu diesem Tag geliebt, wie eine eigene Tochter“, beteuerte der Schwiegervater im Zeugenstand. Ausschweifend schilderte er das Zusammenleben und die Geschehnisse am Tattag. Er bestätigte das Telefonat mit seinem Gegen-Schwieger, wobei dieser aggressiv gewesen sei. Dass er seinem Sohn und der Schwiegertochter den Besuch bei deren Bruder verboten habe stimme nicht, und er habe sich nie mit der jungen Frau gestritten. „Sie waren zufrieden und sie war lustig“, definierte er das Eheleben seines Sohnes. Richterin Selig konfrontierte den Zeugen mit den Chatprotokollen. „Nein. Das glaube ich nicht“, schüttelte er den Kopf und zeigte rückwärts auf seine ehemalige Schwiegertochter: „Sie soll die Wahrheit sagen.“
Richterin hat Zweifel an der Glaubwürdigkeit der Zeugenaussagen
Später wurde ein Bruder des Opfers in den Zeugenstand gerufen. Auch er präsentierte auf seinem Handy den umstrittenden Chatverlauf, allerdings stimmten die Kontaktdaten nicht überein, wie Richterin Selig entdeckte. Letztlich überwogen bei ihr die Zweifel an der Glaubwürdigkeit der Zeugenaussagen und so kam es gegen Zahlung einer Geldauflage zur Einstellung des Verfahrens, was den Beschuldigten 800 Euro kostet.