In der orthopädischen Gemeinschaftspraxis von Dietmar Göbel und Jens Seydel klebt hinter der Anmeldung ein handgeschriebener Zettel an einem Schrank. „Notruf Polizei! (0)110“ steht darauf. Bunte Buchstaben mit einer alarmierenden Botschaft. Die Aggressivität der Patienten in der Praxis nehme zu, so die Beobachtung von Dietmar Göbel. „Und wir haben hier keine Scheibe aus Sicherheitsglas wie in der Notaufnahme im Schwarzwald-Baar-Klinikum“.

Mitarbeiterin wollte Polizei rufen

„Wir hatten eine Patientin, die eine Krankmeldung ohne Untersuchung wollte. Das geht natürlich nicht“, erzählt der Facharzt weiter. Die Frau habe sich gegenüber einer Sprechstundenhilfe so in Rage gesteigert, dass sich die Angestellte nicht mehr zu helfen wusste und die Nummer der Polizei wählte. Aber ohne die 0, die benötigt wird, um das interne Praxisnetz zu verlassen.

Enttäuschung, wenn es kein Rezept gibt

Dabei sei die Aggressivität nur eine Folgewirkung eines auf Spardoktrin und Medizinerfrust basierenden Gesundheitssystems, das letzten Endes dafür sorge, dass immer seltener junge Mediziner eine eigene Praxis führen möchten. „Wir können gar nicht bestmöglich behandeln, sondern allenfalls mit der Note ausreichend“, spricht Göbel auch für seine Kollegen. Der Bevölkerung werde dieses Wissen vorenthalten, was enttäuschte Erwartungen erzeuge. Wenn etwa der Therapeut den Patienten bestärkt, das befriedigende Therapieergebnis mittels Training zum guten zu machen, aber am Ende kein Rezept ausgestellt wird. Verantwortlich für die Situation sieht Göbel weder die Krankenkassen noch die Kassenärztliche Vereinigung sondern die Politik.

Der Zettel, auf den Sprechstundenhilfe Kim Neininger zeigt, hängt nicht ohne Grund in der Orthopädiepraxis. Patienten werden ...
Der Zettel, auf den Sprechstundenhilfe Kim Neininger zeigt, hängt nicht ohne Grund in der Orthopädiepraxis. Patienten werden aggressiver, weil sie Leistungen nicht bekommen, die sie erwarten. Aber auch weil sie nicht wissen, dass die Gesundheitspolitik auch gar keine optimale Versorgung vorsieht. | Bild: Wursthorn, Jens

Die gängige Praxis bedeute an vielen Punkten eine Abkehr von dem, was man an der Uni gelernt habe. Und noch schlimmer: Der heutige Medizinbetrieb stellt den Hippokratischen Eid, die ethische Selbstverpflichtung der Ärzte infrage und zeigt an vielen Stellen schwindende Empathie. „Warum sind Typisierungsaktionen, bei denen es um Menschenleben geht, privat organisierte und finanzierte Veranstaltungen?“, fragt Göbel.

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Widersinn und Irrsinn im Tagesgeschäft macht der Mediziner bei zwei Beispielen rund um die Arthrose deutlich: Bei der Behandlung der schmerzhaften Gelenkerkrankung setzen Experten auf Nahrungsergänzungsmittel wie Glucosaminsulfat oder Chondoitinsulfat. „Sie wirken und begünstigen sogar den Knorpelaufbau.“ Aber sie würden nicht verschrieben. Bei geschätzten Kosten von einem Euro pro Tag. Und dabei handelt es sich um eine Basiskrankheit. Wer große Schmerzen habe, bewege sich nicht. Und sei anfällig für Nachfolgekrankheiten wie Schlaganfall oder Herzinfarkt.

Potenziell gesundheitsgefährdend sei auch die Praxis bei Arthrosespritzen. Zwei sind es im Regelfall je Einheit und werden von der Kasse bezahlt: eine mit dem Narkosemittel, eine mit dem Wirkstoff. „Mische ich aber die Inhalte und minimiere mit nur einer Spritze Schmerzen und Infektionsrisiko, bleibt der Patient auf den Kosten sitzen.“

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Abrechnungswesen und Bürokratie kommen hinzu. 42,85 Euro je Patient und Quartal hat ein Orthopäde für Hilfsmittel wie Krankengymnastik, Massage oder manuelle Therapie zur Verfügung. Für Patienten sind es knapp zwölf Euro mehr. In beiden Berechnungen bedeutet das gerade mal drei Anwendungen.

Dokumentationspflicht über zehn Jahre

Andere Beispiele aus den Fallwerten: Für ein Röntgenbild werden 6,42 Euro angerechnet, für einen Ultraschall gerade mal 0,56 Euro. Im Gegenzug müssen Ultraschall- und Röntgenbilder zehn Jahre aufbewahrt werden. Was das heißt? „Die jungen Kollegen rechnen“, sagt Göbel. Und die daraus resultierende Entwicklung werde auch Therapeuten und Apotheker betreffen. „Wenn ich im Monat 1000 Rezepte ausstelle, ist das schon eine Summe in der Stadt.“

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Göbel hat ab 1985 sechs Jahre in Gießen studiert und bekam es erst im letzten Studienjahr mit Patienten zu tun. Heute hätten die jungen Kollegen schon viel früher eine Ahnung, wie es in den Praxen läuft – und steuerten um. Viele gingen in die Schweiz oder nach Österreich, junge Ärztinnen gründen Familien und die nächste Gruppe sucht sich eine Anstellung im Krankenhaus.

Nur wenn die Rahmenbedingungen stimmen

Der 54-Jährige hat, die Bürokratie eingeschlossen, eine 60-Stunden-Arbeitswoche. Würde er diesen Weg nochmals gehen? Er sei ein hundertprozentiger Orthopäde meint er. Doch seinen Weg könne er den Berufsanfängern heute nicht mehr empfehlen. Allenfalls wenn jemand die Praxis der Vaters übernehmen, finanzielle Unterstützung durch die Kommune genießen oder bevorzugt mit Privatpatienten arbeiten könne, sei dies denkbar.

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Und was könnte aus der politisch genötigten Unterversorgung helfen? „Die Gebührenordnung des Jahres 1996 mit dem einfachen Satz der Privatkunden-Abrechnung“, hat Göbel eine konkrete Lösung. Es sind Gebührensätze, denen die aktuellen Kosten für Praxismiete, Geräte und Personal zwar längst enteilt sind, die aber kombiniert mit Transparenz Wirkkraft entfalten könnten. „Bekommt der Patient eine Rechnung, sieht er, welche Leistung er zu welchem Preis bekommen hat.“ Etwa eine Untersuchung mit Beratung, die mit 9,12 Euro abgerechnet wird.

Lieber Fachliteratur als Gebührenordnung studieren

Entschlackt werden könnte die Gebührenordnung. Statt sich in den alle fünf Jahre neu aufgelegten Wälzer einzuarbeiten, würde sich Göbel viel lieber einem Fachbuch widmen. Oder eben ein Fachseminar besuchen. Das wäre weitaus wichtiger als eines der Weiterbildungsangebote, das die Situation der Medizin widerspiegelt. Tatsächlich gibt es für Mediziner Seminare die im Umgang mit aggressiven Patienten schulen.

KV-Sprecher bestätigt rauen Ton

Den Umgang mit „schwierige Patienten“ vermittelt auch die Kassenärztliche Vereinigung Baden-Württemberg für Ärzte und Praxispersonal. Ein Angebot nicht ohne Nachfrage. „aus den Praxen wird uns widergespiegelt, dass der Ton rauer wird“, sagte KV-Sprecher Kai Sonntag auf Anfrage. Es komme offenbar häufiger zu verbaler Aggression. Gesicherte Zahlen und Erkenntnisse lägen nicht vor. Es würde sicher auch nicht jede Begebenheit weitergetragen. Nicht gemeldet worden seien bisher körperliche Übergriffe aus den Praxen – abgesehen von dem furchtbaren Fall 2018 in Offenburg, als ein Arzt in seiner Praxis von einem Patienten erstochen wurde.