Ibrahim Haj Issam sprich akzentfrei Deutsch – drückt sich gewählt aus. Der 22-Jährige vermittelt den Eindruck, er sei in Deutschland geboren. Dabei ist erst vor zehn Jahren aus Syrien nach Deutschland gekommen. Im Januar 2015, als unbegleiteter Minderjähriger.
Seitdem ist viel passiert: Sein Mutter und sein Bruder sind nachgekommen, Ibrahim Haj Issam selbst hat seine Schule abgeschlossen und eine Lehre zum Anlagenmechaniker beendet. Aktuell absolviert er seinen Meister. Und ist offenbar vollends in Deutschland angekommen.
Der ganze Stolz: die Staatsbürgerschaft
Gemütlich schaut es aus in der Wohnung, die sich Ibrahim Haj Issam mit seiner Mutter, dem Bruder und den zwei kleinen Schwestern teilt. Orientalische Deko schmückt die Wohnung, auf dem Tisch steht süßer Kuchen und Nüsse für die Gäste.
Stolz zeigt der junge Mann ein Foto von seiner Einbürgerungsfeier im Landratsamt im Mai 2025 – seitdem besitzt er die deutsche Staatsbürgerschaft.
Schreckliche Erfahrungen in der Heimat
Bis dahin war es für die Familie jedoch ein langer Weg: „Wir haben in der damaligen Hauptstadt der IS gewohnt“, erinnert sich Haj Issams Mutter, Entisar Abduljalill. Als Ibrahim neun Jahre alt war, habe er mitansehen müssen, wie mehrere Menschen auf offener Straße geköpft wurden. „Da wusste ich: Wir müssen hier weg“, sagt Abduljalill.
Der Plan: als Familie, der Vater hatte sie schon vor der Geburt des zweiten Sohnes verlassen, zu dritt das Land zu verlassen. „Wir haben auf der Straße geschlafen und Hunger gelitten“, sagt sie. „Aber wir wurden immer wieder gefasst.“ Von der Türkei aus seien sie nicht weiter gekommen, die griechische Polizei habe sie immer wieder in die Türkei zurückgeschickt.
Als Elfjähriger alleine über die Grenze
„Dann kam die Idee, dass ich es alleine probiere“, so Haj Issam. Mit gerade einmal elf Jahren sei er mithilfe von Schleusern in einer größeren Gruppe über die Grenze gegangen. „Der Schleuser wurde aber in Griechenland gefasst und verhaftet“, so Haj Issam. Statt die Gruppe zurückzuschicken, wurden auch diese ins Gefängnis gesteckt.
An genaue Abläufe oder Zeitspannen erinnert sich Haj Issam nicht mehr – dafür aber gut an die Zeit danach. Von Griechenland sei er nach Rom und von dort aus nach Rosenheim in Bayern gekommen. „Eigentlich wollten wir uns in München ergeben. Aber die Polizei hat uns in Rosenheim aus dem Zug gezogen.“
Erst Krankenhaus, dann Pflegefamilie
Auch in Deutschland kommt das Kind für einen Tag ins Gefängnis. „Ich habe dort auf dem Tisch geschlafen“, erinnert er sich. In der zweiten Nacht wird er so krank, dass er mit dem Rettungswagen in ein Krankenhaus kommt, dort eine Woche bleiben muss.
Eine tunesische Frau wird seine Rettung: Sie nimmt ihn bei sich zu Hause auf, bringt im Deutsch bei. „Ich hatte Glück, dass ich da aufgenommen wurde“, sagt er. Der Rest der Familie ist derweil immer noch in der Türkei. Ein Antrag auf Familienzusammenführung klappt erst einmal nicht. Nach acht Monaten versuchen es Mutter und Bruder mit dem Schlauchboot.
Nachts im Schlauchboot übers Meer
70 Personen mit 15 Kindern waren in dem Boot zusammengepfercht, erinnert sich Hussam Haj Issam, der Bruder. Stockdunkel war es während der Fahrt, die gefühlt eine Ewigkeit, in Wirklichkeit aber drei Stunden ging. „Bei der Ankunft haben wir das Schlauchboot zerstört, damit sie uns nicht darin zurückschicken können“, so der heute 19-Jährige.
An die genauen Details, wie es dann weiterging, wie sie über Schleuser schließlich nach Deutschland kamen, daran erinnern sich Mutter und Sohn nur noch ungenau. „Wenn ich an die Zeit zurückdenke, werde ich krank“, sagt Abduljalill. „Gott sei Dank sind wir hier angekommen.“
Die Familie ist wieder vereint
Hier, das hieß erst einmal in der Erstaufnahmestelle Ellwangen, wo sie dann der Flüchtlingsunterkunft in der Freiburger Straße in Villingen zugewiesen wurden. Auch Ibrahim Haj Issam kam dazu und war überglücklich, dass seine Mutter und sein Bruder es auch nach Deutschland geschafft hatten.
„Ich konnte es kaum glauben, als ich mit anderen Helfern die Geflüchteten begrüßt habe und plötzlich ein Junge neben mir stand und in bestem Deutsch mit mir sprach“, erinnert sich Meri Passalidu an die erste Begegnung mit Ibrahim.
Sie war eine der Helferinnen der ersten Stunde, kümmert sich um die geflüchteten Familien in der Freiburger Straße, begleitete sie ehrenamtlich zu Arzt- und Behördenterminen. Immer dabei: Ibrahim als Dolmetscher.
Eine Lehrerin setzt sich für den Bruder ein
Passalidu, die bis heute mit der Familie in engem Kontakt steht, ist nicht die einzige, die ihnen geholfen hat. Die Brüder sprechen von viel Glück und offenen Türen, die es ihnen ermöglicht haben, sich so gut in Deutschland zu integrieren. In Königsfeld, wo die Familie zeitweise wohnte, besuchte Hussam Haj Issam die Grundschule Buchenberg.
Eine Lehrerin, die zufällig auch die Nachbarin der Familie war, nahm sich des Jungen an und brachte ihm auch außerhalb des Unterrichts Deutsch bei. Auch er spricht heute einwandfrei Deutsch. Die deutsche Staatsbürgerschaft erhält er sogar zwei Monate vor seinem Bruder – im März 2025.
Große Pläne für die Zukunft
Ibrahim Haj Issam hat nach seinem Hauptschulabschluss eine Lehre zum Anlagenmechaniker für Sanitär, Heizungs- und Klimatechnik gemacht. Jetzt möchte er auch die Meisterprüfung ablegen. Sein Bruder hat sich nach dem Realschulabschluss ebenfalls für eine Handwerkslehre entschieden. „Elektroniker und Anlagenmechaniker, das passt gut zusammen“, begründet Hussam seine Berufswahl.
Denn irgendwann, so der Wunsch der Beiden, wollen sie sich zusammen selbstständig machen.