900 Gramm. Nicht einmal so viel wie ein Liter Milch wiegt Raphael Lima, als er 2009 in Brasilien zur Welt kommt. Zwölf Wochen zu früh, ein winziges Baby, das seine ersten Lebensmonate auf einer Intensivstation für Neugeborene verbringt.
Die Folgen sind bis heute spürbar
Mit den Folgen der viel zu frühen Geburt kämpft der zwölfjährige Villinger bis heute: Raphael hat Epilepsie, eine Autismus-Spektrum-Störung und verschiedene neurologische Probleme, schildert sein Vater Paulo Lima. Und: Raphael hat seit mittlerweile einem Jahr keinen Kinderarzt mehr.
Aufnahmestopp in allen Praxen
Raphael ist ein ehemaliger Patient von Christoph Leonhardt, der seine Praxis in Villingen altershalber zum Jahresende 2021 aufgab. Ohne Nachfolger. Trotz zweijähriger intensiver Suche hatte sich niemand gefunden, der die alt eingesessene Villinger Praxis übernehmen wollte. Wie so viele Patienten der Praxis hat auch Raphael keinen neuen Kinderarzt gefunden.

Die Praxen in Villingen-Schwenningen sind voll, überall herrscht mit Ausnahme Neugeborener Aufnahmestopp. In anderen Städten wie St. Georgen gibt es schon seit Jahren keinen Pädiater mehr.
U-Termine sind überall denkbar
Die in Baden-Württemberg verpflichtenden U-Untersuchungen für Kinder können Familien ohne Kinderarzt dann über die „Patientenservice“-Nummer 116 117 der Kassenärztlichen Vereinigung vereinbaren. Das kann aber bedeuten, dass die U4 bei einem Arzt in Rottweil und die U5 bei einem Arzt in Schwenningen stattfindet – je nachdem, wo freie Termine an die KV gemeldet wurden. Und als Patient aufgenommen wird ein Kind deshalb auch nicht.
Die Crux mit der Arztsuche
„Ich weiß ja, dass es oft nicht einfach ist, einen Arzt zu finden“, sagt Raphaels Vater, der längst den ganzen Schwarzwald-Baar-Kreis erfolglos abtelefoniert hat. „Aber dass es in einem reichen Land wie Deutschland schlicht nicht möglich ist, einen neuen Kinderarzt zu finden: Das kann doch nicht sein.“
Ansprechpartner über Jahre hinweg
Im Jahr 2010 zog der 46-jährige Software-Entwickler mit seiner vierköpfigen Familie aus Brasilien zunächst nach Stuttgart, seit zehn Jahren leben die Limas in Villingen. Bis vor einem Jahr war Raphael bei Christoph Leonhardt gut versorgt. Er bekam seine Medikamente gegen Epilepsie verschrieben, alle drei Monate wurde sein Gehirn mit einer Elektroenzephalografie (EEG) untersucht. Raphaels Eltern hatten einen Ansprechpartner, der ihr Kind und dessen Entwicklung über Jahre begleitete und kannte. Menschlich, aber vor allem als Arzt sei Christoph Leonhardt das beste gewesen, „was uns passieren konnte“, sagt Paulo Lima.
Wenig Hilfe vom „Patientenservice“
Raphaels Medikamente gegen die Epilepsie, die er zweimal täglich nehmen muss, verschreibt ihm inzwischen der Hausarzt seines Vaters. Ein EEG wurde bei dem Jungen seit einem Jahr nicht mehr gemacht. Beim Patientenservice der KV bekam Paulo Lima zwar jemanden ans Telefon, doch wirklich helfen konnte man ihm nicht.
„Wahrscheinlich wäre es besser gewesen, ich hätte gelogen und gesagt: Ja, es ist ein Notfall.“Paulo Lima über die erfolglose Suche nach einem neuen Arzt
Nein, es handle sich nicht um einen Notfall, er suche lediglich einen neuen Kinderarzt, habe er der Frau am Telefon gesagt, erinnert sich der 46-Jährige. „Wahrscheinlich wäre es besser gewesen, ich hätte gelogen und gesagt: Ja, es ist ein Notfall“, sagt er verärgert.
Sechs Monate Wartezeit auf einen Termin
Bei der Hotline gab man ihm noch den Tipp, sich mit seinem Anliegen an das Sozialpädiatrische Zentrum (SPZ) am Schwarzwald-Baar-Klinikum zu wenden. Das SPZ ist ein ambulantes Zentrum zur Früherkennung, Diagnostik und Beratung bei Erkrankungen aus dem neuropädiatrischen und sozialmedizinischen Formenkreis.
Sechs Monate Wartezeit
„Die Wartezeit für einen Termin beträgt ein halbes Jahr, wurde mir gesagt“, sagt Paulo Lima. „Und man braucht einen aktuellen Überweisungsschein.“ Doch wer soll Raphael überweisen? Er könne mit Raphael als Notfall ins Schwarzwald-Baar-Klinikum gehen, dann würde er auch eine Überweisung bekommen, habe man ihm beim Patientenservice geraten. Für Paulo Lima angesichts der ohnehin stets hochfrequentierten Notaufnahme keine Option. „Stundenlang warten und dann müsste ich noch lügen? Nein.“
Was tut die Politik?
Der Software-Entwickler wünscht sich für seinen Sohn einfach nur einen neuen Kinderarzt oder eine Kinderärztin, einen festen medizinischen Ansprechpartner und jemanden, der regelmäßig das EEG vornimmt. „Momentan geht es Raphael gut, aber wir wüssten gerne den aktuellen Stand. Und wir bezahlen schließlich jeden Monat unsere Krankenversicherungsbeiträge.“
Weitere Lücken drohen
Paulo Lima wünscht sich noch etwas: Dass die Politik – vor allem die regionale – aktiv wird und sich zumindest um Lösungen bemüht. Denn besser dürfte die Lage in den kommenden Jahren kaum werden; sind doch mehrere Kinderärztinnen und -ärzte in der Region annähernd 60 Jahre oder älter.
Im Nachbarlandkreis sieht es besser aus
Im Nachbarlandkreis Tuttlingen, wo in der Vergangenheit ebenfalls zwei Kinderarzt-Stellen vakant waren, ist man aktiv geworden: Am Medizinischen Versorgungszentrum (MVZ) am ehemaligen Spaichinger Krankenhaus gibt es seit zwei Jahren eine Kinderarztpraxis, in der seit Sommer sogar eine zweite Medizinerin tätig ist.