Eine heile Welt? Hier im idyllischen Schwarzwald-Baar-Kreis? Bernhard Kumle kann bei dieser Annahme nur den Kopf schütteln. Nein. Der Mediziner ist Leiter der Notaufnahme im Schwarzwald-Baar-Klinikum – was er hier Tag für Tag zu sehen bekommt, spricht eine andere Sprache. Ein wachsendes Problem dabei: Messerattacken.
Das Bundeskriminalamt (BKA) zählt in seiner Kriminalstatistik 2023 deutschlandweit 13.844 Messerangriffe. Dies sind zwölf Prozent mehr als im Vorjahr. Und hier, weit weg von der nächsten Großstadt?
Polizei sieht deutlichen Anstieg
Auch im Schwarzwald-Baar-Kreis sprechen die Zahlen eine deutliche Sprache. 2022 verzeichnete das Polizeipräsidium Konstanz hier 41 Fälle, 2023 waren es bereits 67, so Pressesprecher Daniel Brill. Darunter sind auch solche, in denen das Messer lediglich gezogen, aber nicht benutzt wurde. Fürs laufende Jahr liegen noch keine Zahlen vor.

In der Notaufnahme im Erdgeschoss des VS-Klinikums ist man sie inzwischen fast schon gewöhnt, diese Sache mit den Messern. Ein bis zwei Mal pro Woche im Durchschnitt, sagt Bernhard Kumle, kommen hier Patienten mit Stichverletzungen und brauchen Hilfe. „Das sind deutlich mehr geworden“, bestätigt der Direktor der Klinik für Akut- und Notfallmedizin.
Detaillierte Zahlen kann er zwar nicht nennen, die Fälle in der Notaufnahme werden verschlüsselt und sind später nicht mehr als Opfer von Stichverletzungen erkennbar. Nicht alle werden am Ende auch angezeigt und landen dann in der Polizei-Statistik. Eins weiß Kumle jedoch sicher: „Früher war das definitiv weniger.“ Und: „Da ist so eine Grundaggressivität heutzutage.“
Ein paar Beispiele: Am 6. November kommt es in einem Cannabis-Laden in Blumberg zu einer tätlichen Auseinandersetzung, ein 40-Jähriger wird dabei mit einem Messer verletzt. Ein 30-Jähriger erleidet am 21. Oktober bei einem Rollerdiebstahl am Villinger Bahnhof Stichwunden. Am Bildungszentrum in St. Georgen zückt ein erboster Vater ebenfalls Ende Oktober ein Springmesser.
An einzelne Fälle, die am Ende eines Streits auf seiner Trage lagen, kann sich der Notfallmediziner nicht erinnern. Zu viel ist in der Notaufnahme los, mit 160, 170 Patienten täglich ist dort immer ein bisschen Aufruhr. Todesfälle, sagt Kumle, gab es im Schwarzwald-Baar-Klinikum nach Messerattacken noch keine. „Der eine oder andere Fall war aber schon lebensbedrohlich.“
Schnittwunden an Armen, Messer im Brustkorb
Natürlich, nicht alle Messerangriffe gehen tragisch aus, nicht immer geht es hier um Leben und Tod. Da sind um Beispiel die Patienten, die Schnittverletzungen an Händen und Armen haben – weil sie ins Messer gegriffen haben, ihre Arme zur Abwehr vor dem Angriff nach oben rissen. Manche, so erzählt Bernhard Kumle, haben auch Stichwunden im Brustkorb. Oft jedoch seien die Wunden nicht so tief, so gezielt zugefügt, dass sie lebensbedrohlich wären. Gott sei Dank, sagt der Mediziner.
Das sind tückische Wunden
Für Aufregung in der Notaufnahme sorgen die Messer-Fälle indessen oft. Stichwunden sind tückisch, ihre Schwere ist vielfach nicht sofort erkennbar. Ist die Klinge erst wieder draußen, ist der Stichkanal nicht mehr sichtbar. Hat es im Brustkorb die Lunge erwischt, fällt diese zusammen. Ob aber bei einer Bauchverletzung ein Organ getroffen wurde – das weiß in diesem Moment keiner. Erst eine Bauchspiegelung kann Klarheit bringen.
Die Gewaltbereitschaft habe in den vergangenen zehn Jahren allgemein zugenommen, findet Bernhard Kumle, der seit zwölf Jahren in der Notaufnahme in VS ist. Seit Corona sei es noch schlimmer geworden, „gefühlstechnisch“, so der Notfallmediziner. Doch wer sind die Täter, die hier in der Region Konflikte mit dem Messer lösen wollen? „Überwiegend junge Männer“, soviel kann der Arzt sagen.
Die Täter sind meist Männer
Dies weiß auch die Polizei. Wobei: „Dabei darf man nicht unberücksichtigt lassen, dass Männer, was Gewaltdelikte betrifft, generell stärker vertreten sind als Frauen“, so Daniel Brill. Auch im Schwarzwald-Baar-Keis gebe es zudem Vorfälle, die in Zusammenhang mit Banden zu sehen seien.
Dirk Baier ist Experte für Gewalt aller Art. Der Kriminologe arbeitet an der Züricher Hochschule für Angewandte Wissenschaften, auch er bestätigt die Einschätzung von Bernhard Kumle. Neben den Zahlen des BKA zeigten verschiedene Statistiken aus Krankenhäusern, dass die Anzahl eingelieferter Personen mit Stichverletzungen zunehme, so Dirk Baier.

Ein Stadt-Land-Unterschied? Der sei bislang nicht bekannt. Wie bei anderen Gewaltdelikten sei zwar zu vermuten, dass das Niveau in städtischen Gebieten höher liegt. „Bezüglich der Trends gehe ich hingegen davon aus, dass in Städten wie auf dem Land ein Anstieg vorhanden ist, also ländliche Gebiete keine heile Welt darstellen“, so der Fachmann.
Was also tun, wenn in Blumberg, in Niedereschach oder in Villingen plötzlich ein Angreifer mit einem Messer vor einem steht? „Wenn es irgendwie geht: wegrennen“, rät Thomas Zipperer. Der Kampfsportler ist Inhaber der Villinger Karateschule Ikigai, Situationen wie ein Messerangriff sind bei ihm auch Thema im Training.

Ist die Flucht nicht möglich, hat Zipperer ein paar Tipps zur Verteidigung. „Man kann versuchen, etwas zwischen sich und den Angreifer zu bringen“, sagt er. Dies könne vielleicht ein Fahrrad sein, eine dicke Jacke oder eine Handtasche. Bei einer direkten Abwehr der Messerstiche sei dann vor allem eins wichtig: „Lebenswichtige Körperteile schützen, verletzt wird man jetzt auf jeden Fall.“ Dies heiße zum Beispiel, die Arme zum Schutz so hochzunehmen, dass man dem Aggressor nicht zugleich die Schlagadern präsentiert.
Spezielles Pfefferspray markiert die Angreifer
Lautes Schreien, dem Täter einen Schlüsselbund ins Gesicht werfen oder auch ein Pfeffer-Gel, das den Angreifer zudem mit UV-Farbe markiert, seien weitere Möglichkeiten, sich zu wehren. Bloß eins, das gehe gar nicht in einer solchen Situation: Den Täter wie ein Filmheld entwaffnen und möglichst auch gleich dingfest zu machen, warnt der Karate-Trainer.
Zahlen aus der Region, die alarmieren, Vorfälle fast vor der Haustür, die Angst machen – doch Experte Dirk Baier hat auch diese Erkenntnis parat: „Die aktuell hohen Zahlen bedeuten auch, dass auf 100.000 Menschen in Deutschland 250 Gewalttaten kommen. Das Risiko, schwere Gewalt zu erleben, liegt also weiterhin nahe null. Deutschland ist damit noch immer ein sehr sicheres Land und alle wichtigen Diskussionen über das Thema Kriminalität sollten nicht zur Folge haben, dass sich die Bevölkerung übermäßig vor Kriminalität fürchtet.“