
Professor Maio, wie fällt Ihre Zustandsanalyse aus, wenn Sie auf das Arzt-Patientenverhältnis an Häusern wie dem Schwarzwald-Baar-Klinikum blicken? Haben die Ärzte genug Zeit für sinnvolles Wirken oder sind die betriebswirtschaftlichen Herausforderungen zu groß?
Die Pflegenden und die Ärzte sind in ein System eingezwängt, das ihnen ständig ein schlechtes Gewissen einimpft, wenn sie sich mehr Zeit nehmen als der streng vorgegebene Zeittakt es erlaubt. Das ist eine absolute Fehlentwicklung, denn wenn die Zeit fehlt für ein Kennenlernverhältnis, für ein gutes Verhältnis zum Patienten, dann fehlt die Basis, um eine gute Medizin zu betreiben. Gegenwärtig wird die gesamte Medizin so gesteuert, als ginge es um die schnelle Produktion von Gegenständen und nicht um die Unterstützung von hilfsbedürftigen Patienten. Auf diese Weise werden Kliniken allein durch die Anreize durchstrukturiert wie Fabriken, in denen eine fließbandartige Durchschleusung von Patienten zum Idealfall erklärt wird. In einem solchen System fühlt der Patient sich nur noch als Nummer und die Heilberufe fühlen sich nicht wohl dabei, weil sie für einen menschennahen Beruf eingetreten sind und nicht dafür, um für ein Unternehmen zu arbeiten, das wenig Gespür für die soziale Frage hat, die zur Grundidentität der Pflegenden und Ärzte gehört.
Ist zu wenig Geld für die Kliniken da oder wo sehen Sie das Problem?
Das Problem ist nicht, dass zu wenig Geld da ist, sondern dass wir über die seit 2003 verbindlich eingeführten Fallpauschalen falsche Anreize setzen. Das Problem ist nicht das Geld und nicht die Motivation der Heilberufe, das Problem ist die Durchökonomisierung des Sozialen. Man glaubt, die Medizin allein nach betriebswirtschaftlichen Gesichtspunkten bewerten zu sollen. Die Ärzte werden nach ihren Erlösen bewertet, nach ihren Eingriffszahlen, nach dem Umsatz, den sie generieren, und das ist grundlegend falsch. Die Ärzte sind doch nicht Ärzte geworden, um ihr Wissen und Können für die Konsolidierung der Bilanzen einzusetzen, sondern weil sie anderen Menschen helfen wollen. Wenn aber die schwarze Zahl allein darüber entscheidet, ob ein Krankenhaus gut ist oder nicht, dann ist das einfach das falsche Kriterium. Denn die schwarze Zahl erreichen sie nur, wenn sie am Personal sparen, also an der Kontaktzeit mit dem Patienten und wenn sie dafür sorgen, dass sie nur die Patienten behandeln, die wenig Aufwand erfordern und die nicht zu krank sind.
Was genau stört Sie?
Das ist doch widersinnig. Die Medizin ist dafür da, um den Bedarf der Bevölkerung zu decken und nicht dafür da, um so gute Geschäfte wie möglich zu machen. Ich finde, dass ein aufgeklärter Bürger ein so durchökonomisiertes System nicht tolerieren darf, denn es geht zulasten der schwerkranken Menschen und zulasten der Arbeitsbedingungen der Heilberufe. Das haben wir jetzt an der Pflege gesehen, wozu die Durchökonomisierung führt. Weil man mit der Pflege kein Geld machen kann, wurden einfach Pflegestellen weggestrichen, mehr als 50.000 Stellen seit der Einführung der Fallpauschalen. Und den Ärzten wird die Zeit weggenommen, um sich wirklich um die Patienten zu kümmern. Das ist doch nicht sozial. Die Durchökonomisierung des Sozialen führt dazu, dass nur noch das gemacht wird, was sich rechnet, und das ist de facto ein Abbau des Sozialen, was wir als Bürger nicht zulassen dürfen, denn es gehört zur Pflicht des Staates, dafür zu sorgen, dass alle Bürger eine gute Krankenversorgung kriegen, denn Medizin ist Teil der Daseinsvorsorge und nicht etwas, was man sich auf dem Markt kauft. Dieser Verpflichtung, für eine gute Daseinsvorsorge gradezustehen, entzieht sich der Staat, indem er die Medizin dem Markt überlässt. Das ist eine der drängendsten sozialen Schieflagen unserer Gegenwart.
Wie gelingt es den Medizinern, diese Zwänge zu knacken?
Die Pflegenden und die Ärzte werden gezwungen, in einer Situation des Stresses zu arbeiten. Die Durchökonomisierung der Medizin führt zu einer extremen Arbeitsverdichtung und einer überbordenden Bürokratie, durch die alle Heilberufe in eine Situation der extremen Zeitnot gezwängt werden. Alles muss in Hast abgefertigt werden, nirgendwo kann man einmal in Ruhe sprechen, nirgendwo bleibt Zeit für ein ruhiges Zuhören. Wenn die Medizin zu einem Wirtschaftsunternehmen umfunktioniert wird, wie das unsere Politiker entschieden haben, dann herrscht nur noch betriebliche Geschäftigkeit, dann herrscht nur noch Arbeitsdruck und Hektik. Die Pflegenden müssen im Laufschritt pflegen und finden keine Zeit, um eine Beziehung zum Patienten aufzubauen und die Ärzte müssen so viel wie möglich operieren, weil dies gut bezahlt wird, aber sie können nicht mehr wirklich mit Patienten sprechen.
Beschreiben Sie bitte, was genau aus Ihrer Sicht falsch läuft:
Wir sehen das Resultat einer falschen Weichenstellung, weil die Politiker nicht begriffen haben, dass Medizin etwas anderes ist als ein Wirtschaftsunternehmen. Die Patienten suchen doch keine Geschäftsbeziehung, sondern sie suchen eine Sorgebeziehung, und diese Sorge für den anderen, diese Möglichkeit, sich um Patienten zu kümmern, ihnen zu helfen, ihnen zuzuhören, Verständnis für ihre Not zu entwickeln, diese Möglichkeit wird immer weiter minimiert durch ein System, das den Ärzten beibringt, dass sie für die Bilanzen genauso verantwortlich sind wie für die Patienten. Das bringt die Ärzte in eine moralische Dissonanz, die unverantwortlich ist. Die Ärzte sollten nur danach bewertet werden, dass sie sich um das Wohl des Patienten kümmern, weil die Ärzte eben keine Geschäftsleute sind, sondern Ärzte.
Weshalb arbeiten immer weniger Menschen gerne in der Pflege in Krankenhäusern und was muss hier geschehen?
Wenn die Pflege reduziert wird auf Körperpflege, ohne dass eine Beziehungspflege ermöglicht wird, ist das eine Sinnentleerung dieses wunderbaren Berufs. Wenn wir heute keine Pflegenden mehr haben, dann liegt das nicht an der fehlenden Bereitschaft der jungen Menschen, sich für diesen Beruf zu entscheiden, sondern an dem Versagen der Politik, die seit 15 Jahren tatenlos zugeschaut hat, wie immer nur am Personal der Pflege gespart worden ist, um die Bilanzen auszugleichen. Aber das war ein Sparen am falschen Ende, und deswegen ist der Fachkräftemangel das Resultat einer falschen Politik, die solche Anreize gesetzt hat.
Wie sehen Sie die Position der Hausärzte im Gesundheitssystem?
Die Hausärzte sind gerade in unserer Zeit ein so wichtiger Pfeiler der Gesundheitsversorgung, weil die Hausärzte die Not der Patienten, die sich in den Kliniken unverstanden fühlen, auffangen und Patienten über längeren Zeitraum nicht nur behandeln, sondern vor allen Dingen begleiten. Ich finde, dass das System die enorme Leistung der Hausärzte, die es immer mit sehr komplexen Patientengeschichten zu tun haben, viel mehr anerkennen müsste, denn das, was Hausärzte können, sich um den ganzen Menschen kümmern, das erfordert ein besonderes Können. Deswegen finde ich, dass alle von den Hausärzten viel lernen können, und wir können dankbar dafür sein, dass wir Hausärzte haben, die sich Zeit nehmen für ihre Patienten, obwohl das System sie für dieses Zeit der Zuwendung sehr schlecht bezahlt.
Wie können Patienten und Bürger dazu beitragen, dass sich die Umstände bessern?
Indem sie aufbegehren gegen eine weitere Ökonomisierung des Sozialen und protestieren für eine soziale Medizin, für eine Medizin der Zwischenmenschlichkeit. Man muss protestieren gegen die politisch zu verantwortenden Anreize, die zu einer Durchschleusungsmedizin führen, und man muss sich zur Wehr setzen gegen die Übermacht der Betriebswirtschaft in einem System, das eindeutig ein soziales ist.
Kann die Digitalisierung dazu beitragen, dass wieder mehr Zeit für Anamnese und Therapie da ist?
Die Digitalisierung wird überall vorangetrieben, weil man sich Einsparungen erhofft. Es steht zu befürchten, dass die Zeit, die man durch die Digitalisierung spart, einfach einkassiert wird, um den Betrieb billiger zu machen. Dass die Digitalisierung zu einem Verlust der direkten Begegnung und zu einem weiteren Abbau der echten Kommunikation zwischen Arzt und Patient führen kann, wird einfach nicht thematisiert. Ich finde, uns wird mit einer Politik der Technikemphase etwas vorgegaukelt, was die Technik nicht einlösen kann. Die Digitalisierung wird nur dann eine Hilfe sein, wenn man sie besonnen einsetzt und nicht wenn man so tut, als wäre sie ein Selbstzweck. Sie ist lediglich ein Mittel, und der Zweck muss das Wohl des Patienten sein. Oft habe ich den Eindruck, dass heute eher der Patient das Mittel ist, dem man gerne die Digitalisierung verkaufen möchte, um Geld zu sparen und um die Wirtschaft anzukurbeln.
Was muss sich in der Gesundheitspolitik bei uns ändern?
Wir brauchen grundlegend neue Konzepte. Die gegenwärtige Politik hat nicht den Mut, Konzepte zu entwickeln. Stattdessen ergießt sie sich in Scheinlösungen, die aber nichts an der Fehlentwicklung der Medizin ändern werden. Beispiel Pflege: wenn sie einfach nur 8000 Stellen dazugeben, ist das Grundproblem doch überhaupt nicht gelöst. Das sind lediglich kosmetische Maßnahmen, die aufzeigen, dass die Politiker den Ernst der Schieflage der gegenwärtigen Medizin nicht erkannt haben. Medizin wird eher als Medizinwirtschaft gesehen denn als Daseinsvorsorge, und das ist nicht tolerabel.
Sie sind von der Stationsarbeit am Kreiskrankenhaus Donaueschingen an die Universität gewechselt. Sind Sie froh, dass Sie den weißen Kittel an den Nagel gehängt haben?
Ich bin sehr dankbar für meine klinische Zeit. Ich bin mit Leib und Seele Arzt gewesen, und heute schreibe ich mit Leib und Seele dafür, dass man die enorme Leistung der Ärzte und der Pflegenden anerkennt. Insofern bin ich meiner Sache treu geblieben, und ich möchte weiterschreiben, um allen Heilberufen Mut zu machen und ihnen zu sagen, dass es sinnstiftend ist, sich für hilfsbedürftige Menschen einzusetzen. Insofern bin ich um meine klinische Vergangenheit genauso froh wie um meine heutigen Möglichkeiten, mich für eine humane Medizin einzusetzen.
Fragen: Norbert Trippl
Zur Person
Giovanni Maio ist sowohl ausgebildeter Philosoph als auch Arzt mit klinischer Erfahrung, die er am Kreiskrankenhaus Donaueschingen gesammelt hat, bevor er an die Universität zurückging, um sich in Lübeck für das Fach Ethik in der Medizin zu habilitieren. Kurz nach der Habilitation bekam er verschiedene Rufe auf Lehrstühle im In- und Ausland und nahm den Lehrstuhl für Medizinethik an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg an. Er wurde in namhafte Kommissionen hineinberufen, so in die Zentrale Ethikkommission für Stammzellforschung und in den Ausschuss für ethische und juristische Grundsatzfragen der Bundesärztekammer. Außerdem wurde er zum Berater der Deutschen Bischofskonferenz ernannt. Er hat über 400 Arbeiten veröffentlicht. Seine neuesten Buchpublikationen: Werte für die Medizin. Warum die Heilberufe ihre eigene Identität verteidigen müssen (Kösel Verlag 2018), Mittelpunkt Mensch. Lehrbuch der Ethik in der Medizin. (Schattauer Verlag 2017), Den kranken Menschen verstehen. Für eine Medizin der Zuwendung (Herder Verlag 2016), Geschäftsmodell Gesundheit. Wie der Markt die Heilkunst abschafft (Suhrkamp 2016), Medizin ohne Maß. Vom Diktat des Machbaren zu einer Ethik der Besonnenheit (Trias Verlag 2015).