Anja Greiner

Fragt man Pfarrer Andreas Güntter nach einem Erlebnis, das ihm in 14 Jahren Vesperkirche in Erinnerung geblieben ist, erzählt er folgende Geschichte: Vor ein paar Jahren kam ein Mann an die Kasse, legt drei Euro auf den Tisch und sagt: "Mir geht es besser, ich kann heute spenden." Vielleicht beschreibt Güntter damit das Bild für die Vesperkirche schlechthin.
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Menschen, die wenig haben, das Gefühl zu geben, dazuzugehören. Güntter ist nicht naiv. Er weiß, dass die Aktion nicht das Leben der Menschen verändert. Aber wenn nur einer deswegen den Mut fasst sich aufzumachen, rauszugehen, dann hat Güntter sein Ziel erreicht. Denn der Rest kommt meist von ganz allein.

Bartolomeo Di Tertizzi, 71 Jahre alt, italienischer Akzent, freundliches Lächeln, randlose Brille, drückt wie beiläufig auf den Zähler neben seiner Kasse. Es ist kurz vor halb eins, gedrückt hat er gerade zum 92. Mal. Heute ist ein ruhiger Tag. Im Schnitt kommen 270 Gäste pro Tag; gibt es Schnitzel, sind es fast 400. Am Montag, sagt Güntter, sind es immer am wenigsten. Am Donnerstag am meisten. Seit dem ersten Tag der Vesperkirche, vor 14 Jahren, führen sie eine Liste in der sie penibel notieren, wie viele Essen bestellt wurde, wie viele Leute kamen und wie viel übrig blieb. Danach richtet sich die Bestellung von Güntter. "Meistens ist es eine Punktlandung", sagt er und ein bisschen stolz klingt durch. Bleibt Essen übrig, wird es eingefroren und an die Wärmestube geliefert.

Neue Aufgaben

Bartolomeo Di Tertizzi steht seit 14 Jahren an der Kasse. Heute mit Assistentin: Roxana, eine der insgesamt acht Schüler der Christy-Brown-Schule, die eine Woche die gut 40 Helfer unterstützen. Bedienen, Abwaschen, Kassieren. "Ich freue mich", sagt Di Tertizzi, "dass hier alle Menschen gleich sind." High-five mit Roxana. Dann reißt sie den nächsten Essensgutschein ab. Ein Euro ist der Mindestbetrag. Im Schnitt bekommen sie fünf Euro. "Viele Spenden mehr", sagt Tertizzi. "Wenn einer weniger zahlt, ist es berechtigt." Nach vier Wochen haben sie – Spenden aus den Benefizkonzerten dazugezählt – rund 40 000 Euro eingenommen.

Für Pfarrer Andreas Güntter hat der Tag begonnen mit Wäsche. Um kurz vor neun hat er die dreckigen Tischtücher und Schürzen in eine Wäscherei gebracht und die sauberen wieder abgeholt. Normalerweise übernehmen das die jeweiligen Tagesleiter, am Wochenanfang macht er es selbst. Fein soll es aussehen, hatte Hofmann gesagt. "Wir sind keine Armenspeisung." Der Stammtisch steht gleich rechts neben dem Eingang. "Die sitzen da ab 11.30 Uhr und verbringen den Tag zusammen", sagt Hofmann. Hier sitzen Langzeitarbeitslose neben Berufstätigen, die ihre Mittagspause hierher verlagern und alten Menschen, die in Gesellschaft essen wollen.

Margit Roschu ist 94 Jahre alt, Sudetendeutsche, sie weiß, was Flucht und Hunger mit einem Menschen machen. "Damals hätten wir so was auch gebraucht", sagt sie. Seit fünf Jahren kommt sie ein bis zweimal in der Woche her, gemeinsam mit ihrer Tochter. "Warum soll man ins Wirtshaus gehen?" sagt sie und: "Es geht nicht um billig allein, hier kann man auch Leute kennenlernen."

Neue Bekanntschaften

Richard, 27 Jahre alt, lehnt sich in seinem Stuhl zurück. "Finanziell", sagt er, "läuft es gerade schlecht". Das letzte halbe Jahr war er obdachlos. Zwar hat er wieder eine Wohnung, von einem Job kann er weiter nur träumen. Neben ihm sitzt Mirco, 22 Jahre alt, derzeitiger Wohnsitz: Obdachlosenheim. In der Wärmestube haben sie sich kennengelernt. Hier, sagen sie, ist es gemütlich. Vielleicht kommen sie künftig öfter. Margit Roschu hat zugehört. Sie beugt sich zu Richard, der auf dem Stuhl neben ihr sitzt. "Wir hatten auch mal nichts", sagt sie und beginnt von ihrer Flucht zu erzählen.

Karl-Heinz Weyler, 67 Jahre alt, lässt ein bisschen Parmesan über Spaghetti mit Tomatensoße rieseln. "Einmal normal", hatte Elfriede Hofmann gesagt und Weyler zur Schöpfkelle gegriffen. Essensausgabe ist ein Metier, seit gut zehn Jahren schon. Ein Rentnertreff, der anderen Art, der sich hinter den Wärmebehälter gefunden hat. Gerhard Paul, Klaus Lutz und Kurt Himmelsberger, alle über 70, alle tragen die weiße Mütze mit stolz. "Du musch zwischendurch rühren", sagt Weyler in Richtung Lutz, der mit klebrigen Nudeln kämpft. "Was brauscht?" fragt Paul. "Einmal klein, einmal ohne Käse", sagt Hofmann und hält die Teller hin. Das Essen kommt vom Franziskusheim. Nachbestellen können sie jederzeit. 20 Minuten dauert es dann, bis der Nachschub da ist. Eine eigene Notfallreserve – Kartoffelsalat und Maultaschen – haben sie immer eingefroren.

Luzia Himmelsberger steht einen halben Meter neben ihrem Mann Kurt und reicht einen Teller Gemüsesuppe über die Theke und sagt: "Früher hatten wir eine Jugendherberge bei Stuttgart, wir haben immer gesagt, wenn wir mal in Rente sind, wollen wir was Sinnvolles machen." In drei Woche haben Himmelsberger die Leitung. Dann werden sie bei der täglichen Besprechung morgens um halb elf die 46 Helfer den jeweiligen Stationen zuweisen und die Wäschelieferungen koordinieren.

Gebhard Weißhaar streift das restliche Essen von den Tellern und packt das Geschirr in eine Wanne. Die wird zum Spülteam in das Gemeindezentrum gebracht. Seit fünf Jahren ist er dabei. Manchmal, sagt er, könnte er ein wenig grummeln. "Wenn die Teller noch fast voll bei mir ankommen."

Ursula Zibal steht im Vorraum des Gemeindezentrums und kippt die zehn Liter fassende Kaffeemaschine ein wenig nach vorne. Umgefüllt in Kannen wird der Kaffee dann über den Hof in die Kirche transportiert. Gut 2,5 Kilo Kaffee brauchen sie am Tag. "Der Kaffee", sagt sie, "ist teilweise beliebter als das Essen". 40 Plätze gibt es oben auf der Empore in der Kirche. Dort schenken sie den Kaffee aus und servieren Kuchen. Inzwischen regelt eine Ampel den Zugang. Vier grüne Lichter: es ist noch Platz. Rotes Licht: alles besetzt. Da oben sitzen und dem Treiben zusehen, das sei ein Stück Lebensqualität, hatte einer im Vorbeigehen gesagt.

Neuer Mut

Reiner Hüfler hat gerade noch einen Schwung Teller in de Spülmaschine gestellt, dann setzt er sich an den großen Tisch im Gemeindezentrum. Es ist eine Minute vor eins. Das Wort zum Tag wird aus der Kirche in das Gemeindezentrum übertragen. Fünf Minuten Pause für die Helfer. Auch in der Kirche haben sich alle einen Platz an einem der Tische gesucht. Stille. Das erste Mal an diesem Tag.

Wenn Pastor Hans-Ulrich Hofmann sich um Punkt eins auf die kleine Kanzel ans Mikrofon stellt und ein paar Worte der Besinnlichkeit spricht, hat er schon gut 100 Hände geschüttelt, ist auf mindestens zehn verschiedenen Stühlen gesessen und hat Gespräche geführt über die Wohnungssuche, sich gesundheitliche Probleme angehört und Fragen erörtert wie: "Darf man die Linken wählen?"

Ein guter Vesperkirchen-Tag ist für ihn, wenn nicht jeder Platz besetzt ist. Wenn er mit den Leuten reden kann. Vor ein paar Jahren kam eine Frau, die Verzweiflung, sagt er, habe man ihr angemerkt. Zu oft war sie schon abgewiesen worden. Die Vesperkirche war eine Art letzte Chance für sie. Er hat versucht, ihr Mut zu machen, sich lange mit ihr unterhalten. Später sah er sie im Gespräch mit anderen. Am nächsten Tag kam sie wieder. "Das hat mich sehr gefreut", sagt Hofmann, dreht sich um und schaut in Richtung Tür: "Ich bin gespannt, ob sie heute wiederkommt."

Die Vesperkirche in der Pauluskirche in Schwenningen ist noch bis 19. Februar, täglich von 11 Uhr bis 15 Uhr geöffnet.

 

Weitere Angebote für gemeinsame Essen

Vier Wochen dauert die Vesperkirche in Schwenningen. Weitere Aktionen dauern das ganze Jahr über an.

  • Vesperkirche Plus: Vom 25. Februar bis Ende November findet immer am letzten Samstag im Monat, immer ab 22 Uhr die Vesperkirche Plus in der Schwenninger Friedenskirche (August-Reitz Straße) statt. Das Prinzip entspricht dem der Vesperkirche.
  • Mahlzeit: Alle zwei Wochen, immer am 1. und 3. Donnerstag im Monat, findet im Gemeindesaal der St. Bruder-Klaus-Kirche in Villingen ein gemeinsames Essen für Menschen mit mehr oder auch weniger Geld statt. Ehrenamtliche Helfer kochen ein selbst ausgedachtes Menü, das dann für 2,50 Euro verkauft wird. Kaffee und Kuchen gibt es ebenfalls. Das Projekt finanziert sich ausschließlich über Spenden. Gegründet 2011 auf Initiative des Arbeitskreises Christlicher Kirchen (ACK) sind inzwischen an über 100 Tagen mindestens 800 Essen über die Theke gegangen. Die nächste Mahlzeit findet statt am Donnerstag, 26. Januar, ab 12 Uhr.